Nachdem die audiovisuellen Medienarchive über lange Zeit nicht oder nur mit hohen Kosten verbunden zugänglich waren, setzt sich nun in der Politik, der Juristerei, den Medien – und in der Archivwelt, ein Paradigmawechsel durch.
Diese Kulturgüter werden nicht nur für die Forschung geöffnet.
Historikerinnen und Historiker können davon besonders profitieren und gleichzeitig zur Kontextualisierung und zum Verständnis dieser Inhalte beitragen.
Dieser Trend zur Archivöffnung ist weltweit zu beobachten, wobei die Archive der SRG ganz vorne, manchmal auch als Pioniere, mitmachen.
Ich möchte euch mit diesem und später folgenden Blogbeiträgen den Wert der audiovisuellen Medienarchive für die historische Forschung näherbringen, Informationen über die Bestände und die Zugangsmöglichkeiten aufzeigen und auch Tipps und Anregungen für ihre Auswertung vermitteln.
Dabei lasse ich es mir nicht nehmen, auch einzelne Dokumente, die mich besonders beeindrucken, vorzustellen.
Ich konzentriere mich dabei auf die Schweiz, weise gelegentlich aber auch auf Beispiele und Praktiken aus dem Ausland hin.
Medienarchive im Modul Mediengeschichte an der FernUni Schweiz
Weil ich Archive nicht nur als Quelle, sondern auch als ein Medium verstehe, kommen Medienarchive in meinem Modul Mediengeschichte an der FernUni Schweiz vielschichtige Dimensionen zu.
- Was bedeutet es für eine Gesellschaft, wenn plötzlich Millionen von Stunden Vergangenheit zugänglich werden?
- Wie gehen wir Historikerinnen und Historiker damit um?
- Wie analysieren wir etwa eine Tageschau, wie machen wir unserem Publikum diese Quelle zugänglich?
- Dabei wird auch klar, dass wir zur korrekten Quellenkritik Kenntnisse über die Entstehung und Verbreitung der Quellen brauchen, mit anderen Worten: Mediengeschichte.
Was kannst du aus Filmquellen lernen?
Ich bin auf Kurt Frühs Spielfilm «Bäckerei Zürrer» aus dem Jahr 1957 gestossen.
Es ist eine recht spannende, rührende, auch vergnügliche Geschichte mit glänzender Schauspielkunst, in welcher es vordergründig um den Generationenwechsel in einer Bäckerei geht.
Als Historiker hat mich der Film gepackt mit seiner Reichhaltigkeit an bildhaften Aussagen und Eindrücken zu jener Zeit, die wir als diejenige des rasch zunehmenden Wohlstands der 1950er Jahre kennen.
Da ist zuerst einmal das Quartierbild und -leben der Zürcher Langstrasse.
Viele dörflich anmutende Aspekte scheinen denjenigen einer städtischen Peripherie weichen zu müssen.
Die Quartierbäckerei soll einer Grossgarage weichen.
Dann zeichnen sich spannungsgeladene im Wandel befindliche Gesellschaftsstrukturen ab: etwa im Familienleben, in welchem der Vater befiehlt (und die Mutter begreift); italienische (wohl auch Tessiner) Einwanderer zeigen extrovertiertere Lebensweisen auf und ecken damit an; schnelle, wenn auch wacklige Geschäftsmöglichkeiten verlocken im internationalen Handel.
Jugendliche finden etwas Zeit und Geld für ihre eigene Welt: Velorennfahren, Musik und Sexualität.
Und hat man dabei nicht aufgepasst, dann wird halt abgetrieben oder geheiratet.
Vor allem hat mich aber das Bild der fast selbstverständlichen Verwahrlosung gescheiterter Existenzen verwirrt, mit dem entsprechenden Drogenproblem: Der Film zeigt immer wieder Gaststuben voll alt erscheinender Männer, die vor sich hin trinken und rauchen. Gibt’s ein Problem, geht man trinken.
Ein geschäftlicher Fehlentscheid, Streit mit dem Sohn, der den Betrieb übernommen hat, oder Künstlerdasein führen dazu, dass man zwar nicht auf der Strasse, aber etwas weniger sichtbar in Schuppen lebt und stirbt.
Dieser Film ist eine Fiktion, deren dramaturgische Überzeichnung und wohl auch pädagogische Intention bei der Quellenkritik sorgfältig abgewogen werden müssen.
Wir können daraus kaum unbesehen Fakten übernehmen (was wir im Übrigen bei allen Quellen bleiben lassen sollen).
Doch können wir sehen, zu welchen Themen und Sorgen es Mitte der fünfziger Jahre lohnend erschien, einen Film zu produzieren und dem Publikum vorzustellen, und welche Themen, Aussagen und Werte Anklang fanden.
Der Film wurde ein grosser Kinoerfolg und gewann den Zürcher Filmpreis – das Fernsehen begann gerade seinen Erfolgskurs.
Hunderttausend Stunden Inhalte online zugänglich!
Schweizerfilme sind in der Regel gut erhalten und können in der Cinemathèque Suisse, einem der weltweit bedeutendsten Filminstitute, recherchiert werden.
Zahlreiche Filme sind restauriert und auch digitalisiert worden, wie der vorliegende mit Unterstützung von Memoriav und des Schweizer Fernsehens, das oft schon bei der Produktion mitgewirkt hatte und auch Übertragungsrechte besitzt, sie also auch in ihren Archiven aufbewahrt.
Auf die wichtige Rolle von Memoriav bei der Erhaltung und Vermittlung des audiovisuellen Kulturguts in der Schweiz werde ich in meinem nächsten Blogartikel eingehen.
In den Archiven der SRG befinden sich mittlerweile an die zwei Millionen Stunden Inhalte, die die öffentliche Schweiz seit den frühen 1930er Jahren mit Radiodokumenten und den späten 50er Jahren auch Fernsehsendungen facettenreich und mit hoher Relevanz dokumentieren.
Etwa hunderttausend Stunden dieser Inhalte sind bereits online zugänglich, wenn auch nicht immer ganz einfach auffindbar.
Es handelt sich um Inhalte mit hoher Relevanz, weil das Radio und Fernsehen über lange Zeit die einzigen Kommunikationsmittel waren, die gleichzeitig von den grössten Teilen der Bevölkerung rezipiert und als sehr glaubwürdig und schweizerisch empfunden wurden.
Es darf allerdings nicht vergessen werden, dass selbst zu Zeiten des Schweizer Monopols der SRG-Medien auch ausländische Radio- und Fernsehprogramme und viel mehr Kino konsumiert wurden.
Die zugänglichen Radio- und Fernseharchivinhalte sind mindestens einem vierfachen Selektionsprozess unterzogen, dessen sich die Quellenkritik bewusst sein muss:
Erstes Selektionskriterium: was wurde überhaupt produziert?
Die Public Service Medien schufen ihre Inhalte mit hohen, wenn auch sich wandelnden Ansprüchen, die auch einer steten öffentlichen Kontrolle unterlagen.
Was wir also in den Archiven an ausgestrahlten Sendungen finden, kann als ein sehr weit verbreitetes Gut befunden werden, welches allgemeinem Empfinden entsprach und keine Tabuzonen übertrat – es sei denn, ein Pressesturm, Publikumsproteste und Einsprachen durch die institutionalisierten Kontrollorgane und Politiker weisen auf Verletzung solcher Schranken hin.
Zur Einschätzung der Verbreitung dieses Wissens ist es also notwendig, die Programmierung und den Publikumsanklang kennen oder zumindest einschätzen zu können.
Damit solche Quellenkritik möglich ist, sind also auch die Hausarchive und die Aufarbeitung ihrer Geschichte wichtig.
Die SRG hat allerdings aus wirtschaftlichen Gründen den Hausarchiven der Unternehmenseinheiten nicht immer dieselbe Aufmerksamkeit geschenkt wie den Produktionsarchiven.
Die Institutionengeschichte der SRG ist in einem über zehn Jahre dauernden Projekt von unabhängigen Historikerinnen und Historikern aufgearbeitet worden.
Zweites Selektionskriterium: die Produktionstechnik, was wurde aufgenommen?
Vor allem in den Anfängen waren das Radio und Fernsehen vorwiegend Life-Medien.
Das Meiste ging direkt auf Sendung.
Aufnahmen gab es nur, wenn das technisch oder durch Zeitverschiebung zwischen Event und Ausstrahlung notwendig war (etwa Reportagen mit Ton und Bild von ausserhalb der Studios, Sport) oder was als besonders wertvoll mit Potential für eine Wiederverwendung eigeschätzt wurde (Interviews mit bedeutenden Persönlichkeiten, Konzerte, Theaterproduktionen).
Das bewirkt, dass sich zu vielen Sendungen, in den Fernseharchiven der sechziger Jahre, nur gerade das Rohmaterial (Filmaufnahmen, bisweilen ohne Ton oder mit dem unbearbeiteten Originalton) befindet.
Ab den späten sechziger Jahren wurde es technisch erleichtert, Studioproduktionen vorzuproduzieren, doch waren die Kosten für die Aufnahmetapes hoch und ihre Wiederverwertung möglich, so dass beispielsweise die Sendung zur Mondlandung des Fernsehens der italienischen Schweiz gelöscht wurde.
Drittes Selektionskriterium: Wie können audiovisuelle Produktionen aus der Vergangenheit in den Archiven sichergestellt werden?
Aus der frühen Radiozeit gingen viele Aufnahmen verloren.
Zwar gab es durchaus schon ein Bewusstsein für das, was die Archivarenliteratur «second value» nennt, nämlich der Wert aus rein historischer Perspektive, also ohne eigentlichen Verwendungszweck im Programm, doch waren dafür die Ressourcen knapp und die ersten Generationen von Tonträgern (beschichtete Schallplatten, Draht) waren äusserst zerbrechlich und unstabil.
Seit den achtziger Jahren wurde beim Fernsehen eine eigentliche Sisyphusarbeit geleistet, indem Filme und in die Jahre gekommene Videoformate auf neue Formate kopiert wurden, wohl wissend, dass dieser Prozess in ein paar Jahren wiederholt werden musste und dass mit jedem Kopiervorgang etwas vom audiovisuellen Signal verloren ging.
Erst die Digitalisierung brachte eine Wende.
Zwar müssen auch digitale Formate etwa alle acht Jahre auf Neue übertragen werden, doch kann dies automatisiert werden und es gibt keinen Datenverlust – eine Nummer bleibt eine Nummer – wenn die Archivierung nach allen Regeln der Kunst vorgenommen wird.
Dies ist bei grossen Radio- und Fernseharchiven in der Regel der Fall. Im ersten Jahrzehnt der Zweitausenderjahre ging die gesamte Radio- und Fernsehproduktion ins Digitale über und die Kosten für die Speichermedien senken sich exponentiell.
Somit wird es möglich, alle Produktionen aufzubewahren.
Viertes Selektionskriterium: Was wird wem und wie zugänglich gemacht?
Die Frage ist eigentlich nur, ob dies sinnvoll ist und wie sie auch zugänglich gemacht werden. Es gibt da viele Hindernisse, aber immer mehr auch Lösungen. Dazu mehr in meinem nächsten Blogartikel.
Technik unterstützt die Entwicklung der audiovisuellen Archive massiv: Robotik etwa bei der automatisierten Digitalisierung von Videokassetten und bei der Speicherung grosser Mengen, immer mehr aber auch Informatik und künstliche Intelligenz, um die Inhalte effizient zu verwalten und zu erschliessen.
Fazit
Audiovisuelle Medienarchive öffnen sich und bieten neue, faszinierende Einblicke in die Vergangenheit – und damit auch Erkenntnisse über die Gegenwart.
Für den Zugang in diese Welt sind einige Kenntnisse und Tipps hilfreich.
Das will ich in meinem Modul Mediengeschichte an der FernUni Schweiz und auch mit diesem Blog bieten. In einem nächsten Blog werde ich die Archvidatenbank Memobase vorstellen.