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Was dir dein Perfektionismus bringt – und was er dich kostet

Zwingst du dich andauernd zur Höchstleistung und alles muss stets perfekt sein? Trotzdem bist du nie richtig zufrieden mit dir? Früher oder später wird dir so leider der Treibstoff ausgehen. Wenn du zu Perfektionismus neigst und dieser dein Lernen und Studium negativ beeinflusst, solltest du lernen, (ein bisschen) loszulassen.

 

Bist du nie ganz glücklich darüber, wie viel du heute erreicht hast? Nimmst du dir sogar regelmässig vor, am nächsten Tag noch mehr zu leisten? Regst du dich über jede Kleinigkeit auf und bringen dich schon kleine Missgeschicke aus dem Konzept? Malst du dir öfters aus, dass dich bald eine Katastrophe treffen könnte?

 

Und wie hast du es eigentlich mit Kritik? Bist du selbst deine härteste Kritikerin oder dein härtester Kritiker und kann dir niemand etwas recht machen? Trifft dies auf dich zu, könnte es sein, dass du in der Perfektionismusfalle steckst.

 

Ein kleiner Trost: Du bist nicht allein!  

 

Perfektionismus – eine Gesellschaftskrankheit?

«Mit Perfektionismus haben wir als Gesellschaft ein Problem», konstatiert Thomas Curran. Er ist Assistenzprofessor für «Psychological and Behavioural Sciences» an der London School of Economics and Political Science und hat im Juni 2023 sein Buch «The Perfection Trap» (Die Perfektionismusfalle) veröffentlicht. Der problematische Umgang zeige sich gut in Einstellungsgesprächen, wo wir, wenn wir nach persönlichen Schwächen gefragt werden, ganz gerne mit «Wahrscheinlich mein Perfektionismus.» antworten.

 

Doch ist Perfektionismus eine heimliche Tugend? Laut Curran eher eine unheimliche. Er sieht nämlich keinerlei Spielraum für Ambivalenz: «Perfektionismus richtet eindeutig mehr Schaden an, als dass er Gutes tut», so spricht der Psychologe auch von der «Perfektionismusfalle».

 

Trotzdem beruhigt er: «Du bist nicht selbst schuld.» Unsere Welt werde zunehmend perfektionistisch und reisse uns unbarmherzig mit. «Wir müssen immer fitter, immer schöner, immer besser werden.» Die Familie, die Wohnung, der Job, das Studium, der Urlaub und sogar das Essen, alles sollte perfekt sein. Aber muss es das wirklich?

 

Perfektionismus hat nichts mit hohen Zielen zu tun

Eines vorweg: Es geht nicht darum, dass du keine hohen Standards oder hohe Erwartungen an dich selbst haben darfst. Ambitionierte Ziele sind völlig in Ordnung. Wer studiert, ist zweifelsohne leistungsorientiert, und daran ist nichts auszusetzen.

 

Curran zufolge spricht man erst dann von Perfektionismus, wenn dieser von allzu hohen Erwartungen, allzu harscher (Selbst-)Kritik oder von einem zu starken Bedürfnis nach einer Welt, die genau nach unseren Wünschen funktioniert, begleitet wird.

 

Es geht also um die hohen Ansprüche, die uns jeden Tag alles abverlangen – unsere ganze Energie und Kraft – und uns dann immer noch das Gefühl gibt, nicht genügend getan zu haben.

 

Imposter-Phänomen – der kleine Bruder des Perfektionismus

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Im Zusammenhang mit Perfektionismus ist auch vom «Imposter-Phänomen» die Rede, dem Gefühl, eigentlich gar nicht dort hinzugehören, wo man sich gerade befindet. Gedanken wie «Irgendwann finden sie heraus, dass ich gar nicht so gut bin.» oder «Wehe, wenn sie merken, dass ich es gar nicht verdiene, Teil dieses Studiengangs zu sein.» gehen oft Hand in Hand mit Versagensängsten, die viele Perfektionisten plagen, egal, ob Professor/in oder Neustudierende. Auch hier, meint Curran, ist der Perfektionismus das Grundproblem, das Streben nach einem letztlich unerreichbaren Ideal.

 

Fehlerlosigkeit? Ein unerreichbares Ideal

«Menschen verwechseln oft den Wunsch nach hohen Standards mit einem Bedürfnis, stets fehlerlos zu sein. Bei Ersterem geht es um Gewissenhaftigkeit, um ein Pflichtgefühl oder durchaus einen gesunden Ehrgeiz, während in Letzterem eine idealisierte Sicht auf sich selbst und die Welt steckt.» 

 

Perfektionistische Menschen erwarten, dass sie selbst und die Menschen um sie sich so verhalten, wie sie es sich wünschen. Ist dies (wieder einmal) nicht der Fall, geraten sie aus dem Konzept. Perfektionismus, sagt Curran, werde charakterisiert von einem ausgeprägten Defizitdenken: «Meine eigenen hohen Standards führen mir täglich vor Augen, dass ich nicht perfekt bin. Ich bin fehlerhaft – und muss das um jeden Preis verbergen. Keiner darf wissen, dass ich Fehler mache.»

 

Da aber niemand perfekt ist und Fehler zum Alltag gehören, ist die Not oftmals gross. «Alle Dimensionen des Perfektionismus sind darauf ausgerichtet, ein unperfektes Selbst zu reparieren.» Wir treiben uns an, besser, schneller, schöner oder eben perfekt zu werden.

 

Doch da Perfektion lediglich ein Ideal ist, sind Perfektionisten dazu verdammt, pausenlos nach mehr zu streben, ohne jemals anzukommen. Und das kann ganz schön anstrengend sein. Noch dazu ist es kontraproduktiv, konnten doch Curran und sein Team in ihren Studien keinerlei Korrelation zwischen Perfektionismus und Bestleistung feststellen.

 

Im Gegenteil: Übermässiger Perfektionismus führe sogar nachweislich zu schlechteren Leistungen.

 

Das Perfektionsparadox

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Der Wunsch, allerhöchste Ziele zu erreichen, löst einen Teufelskreis aus, den Thomas Curran so beschreibt: «Ich brauche Bestätigung, bekomme sie jedoch nur, wenn ich perfekt bin, also muss ich mir hohe Ziele setzen und brillieren, aber weil ich sie nicht erreiche, muss ich mich noch mehr anstrengen. Das macht mich ängstlicher und stressanfälliger.»

 

In Situationen, die herausfordernd oder stressig sind, erleben perfektionistisch veranlagte Menschen mehr abwertende Gedanken und Gefühle als Menschen, die zwar ambitioniert sind, die Fünf aber auch mal gerade sein lassen können. In den Augen der Perfektionisten wird aus einem Problem schnell eine Katastrophe: «Wenn diese Arbeit nicht gelingt, werde ich im Studium versagen.» Aus einer Episode wird eine Verallgemeinerung: «Nur ein ‹Gut› im Test? Ich bin eine Null.» Und der Blick auf die Welt wird ein ängstlicher. «Auf diese Weise bauschen sie stressige Situationen auf und verlängern sie», erklärt Curran und erwähnt das «Gesetz des abnehmenden Ertrags» (The law of diminishing returns).

 

Perfektionistische Menschen würden zwar anfangs häufig einen direkten Ertrag ihres Strebens erleben, doch dieser nehme ab und schrumpfe am Ende sogar – obwohl mehr Energie und Zeit investiert werde. «Das ist das Perfektionsparadox.»

 

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Der Kampf gegen den Perfektionismus – nicht ganz einfach, aber machbar

Ein guter Anfang sei, den Perfektionismus als Grundproblem zu sehen und ihn zu benennen, meint Curran.

 

Fängst du mit dem Lernen immer erst sehr spät an? Schiebst du grössere Arbeiten länger vor dir her? Hast du das Gefühl, im Hamsterrad gefangen zu sein? Gibt es nichts (mehr), wofür du dich selber loben und feiern kannst?

 

Noch einmal zur Erinnerung: Wer seinen Perfektionismus loswerden will, muss nicht zum Minimalisten oder Faulpelz werden. Du darfst weiterhin hohe Standards haben und viel von dir selbst verlangen. Das Quäntchen Eifer und Ehrgeiz, das zu viel Druck auslöst, das verdient deine Aufmerksamkeit.

 

Curran zufolge gibt es verschiedene Wege, um den Perfektionismus loszuwerden. Ein Zaubermittel, das über Nacht wirkt, gibt es allerdings nicht. Wie immer bei Verhaltensänderungen muss schrittweise und über einen längeren Zeitraum daran gearbeitet werden. Wenn der Leidensdruck gross oder der Leistungsabfall signifikant ist, empfiehlt sich eine therapeutische Begleitung.

 

Hier sind verschiedenen Methoden, die Curran in seinem Buch vorstellt, angewendet auf Studien- oder Lernsituationen:

 

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1. Reflexion und Selbstfürsorge


Nimm dir Zeit, um über dich und deine Werte nachzudenken – am besten regelmässig. Was ist dir wichtig? Welches Verhalten löst (zu) viel Druck aus? Wo könntest du etwas mehr loslassen? Wie gehst du mit Kritik um? Kritisierst du auch andere sehr streng, falls ja, was hast du davon? Selbstfürsorge heisst, das Nötige zu tun, um mental und körperlich gesund zu bleiben. Was tust du aktiv für dein Wohlergehen? Gönnst du dir Pausen oder Auszeiten, oder musst du diese erst durch viele Überstunden «verdienen»?

 

Finde Antworten auf solche Fragen und versuche, dein Verhalten in kleinen Schritten dahin zu bringen, dass du immer wieder zufrieden zurücklehnen kannst, im Wissen, dass du gut (genug) bist!

 

2. Entdecke und benenne deine perfektionistischen (unrealistischen) Gedanken

 

Viele unserer Gedanken lösen – ohne, dass wir uns dessen bewusst sind – innerlich einen grossen Druck aus. Klassiker sind Sätze wie: «Ich muss …» oder «Ich darf doch nicht …» Halten diese Gedanken einer kritischen Betrachtung stand?

 

Musst du wirklich erst das ganze Theoriebuch auswendig können, bevor du eine Pause machen darfst? Musst du in allen Fächern stets Bestleistung erbringen? Sind deine Ansprüche an dich selbst und die Welt realistisch? Und was hast du davon, dass du so denkst? Lerne, deine perfektionistischen Gedanken zu erkennen und zu benennen.

 

Frage dich angesichts solcher Gedanken immer wieder: «Ist das überhaupt wahr? Ist es hilfreich? Könnte ich das auch anders sehen?» Lass dich überraschen, wie viele Optionen du wirklich hast – ohne gleich zum Faultier zu mutieren.

 

3. Loslassen oder Ziele anpassen

 

Wenn das Gefühl, nichts mehr richtig zustande zu bekommen, überwältigend ist, ist es angebracht, die eigenen allzu hohen Ziele zu überdenken und vielleicht sogar (teilweise) loszulassen. Interessanterweise wählen erfolgreiche Lernende im Gegensatz zu perfektionistischen eher realistische als idealistische Ziele.

 

Muss deine Semesterarbeit perfekt sein, oder ist «gut» gut genug? Musst du wirklich in allen Lebensbereichen ständig brillieren oder könntest du das eine oder andere eine Zeit lang etwas zurückstellen, um dich auf das Wichtigste zu fokussieren?

 

Betrachte deine Ziele unbedingt im direkten Zusammenhang mit deinen Ressourcen. Niemand kann im Studium, bei der Arbeit und im Familienleben ständig 100 Prozent geben, ohne auszubrennen. Setze deine Kräfte klug ein und erlaube dir auch ab und zu, Hilfe anzunehmen oder etwas zu delegieren. Und lass es auch mal bei gut genug.

 

4. Freizeit und Auszeit – Zeit für dich

 

Auszeiten helfen uns, Abstand vom Alltag sowie dem dauerbeschäftigten «Ich» zu finden, etwas, das immer wieder dringend nötig ist. Gerade wer ein Fernstudium stemmt, jongliert mehrere Dinge, die durchaus alle wichtig sind, gleichzeitig. Umso notwendiger sind Zeiten, in denen keine To-do-Listen abgearbeitet werden müssen, keine Abgabetermine drücken und kein «Ich muss doch noch» deine Ruhe stört.

 

Lachen, spielen, herumblödeln, träumen, Zeit vertrödeln, … All dies hilft dir dabei, den Kopf zu lüften und Energie zu tanken, damit du dich ausgeruht und zufrieden wieder deinem Studium widmen kannst.

 

Kurz gesagt:


  •  Perfektionismus ist ein zunehmendes Phänomen unserer Zeit.
  •  Hohe Standards zu haben hat nichts mit Perfektionismus zu tun.
  • Perfektionismus und Leistung weisen KEINE positive Korrelation auf.
  • Perfektionismus generiert einen sehr hohen Aufwand.
  • Von Perfektionismus wegzukommen ist nicht einfach, aber machbar!

 

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