> Zurück zur vorherigen Seite

Rauchzeichen aus dem «Stumpenland»

Hast du gewusst, dass einst im aargauischen Wynen- und im benachbarten Seetal so viele Zigarrenfabriken standen, dass die Region in der ganzen Schweiz nur «Stumpenland» genannt wurde? Wenn nicht, bist du mit dieser Wissenslücke nicht allein. Kaum jemand erinnert sich heute noch an dieses Stück Wirtschaftsgeschichte. Wie man es trotzdem wie ein Puzzle zusammensetzen kann – sogar in Zeiten der Pandemie – zeigt dieser Blog-Artikel.

 

Tabak verwandelt Gedanken in Träume,

 

soll Victor Hugo gesagt haben.


Friedrich Dürrenmatt gab zu Protokoll, mit Bertold Brecht nach dessen Besuch seines Stückes «Romulus der Grosse» in Basel 1949 beim Nachtessen «über nichts als über Zigarren» gesprochen zu haben.

Und der Aargauer Schriftsteller Hermann Burger meinte:


«Die Auswahl der Tabaksorten, ihre wohlabgewogene Mischung und die Vereinigung der Blätter zu duftenden Rauchrollen ist eine Kunst, die es mit derjenigen des Fabulierens durch-aus aufnehmen kann».

Als bekennender Raucher, teile ich diese Ansichten über Zigarren. Sie sind auch für mich eine Leidenschaft, der ich mich in ruhigen Stunden gerne hingebe. Als wir im Modul «Wirtschaftsgeschichte» an der FernUni Schweiz aus Lea Hallers ausgesprochen lesenswertem Buch über den Transithandel erfahren, wie die kleine Schweiz zu einer diskreten Weltmacht des Rohstoffhandels wurde, erinnere ich mich deshalb an den Schweizer Stumpen und daran, dass das Aargauer Hinterland sogar einmal «Stumpenland» genannt wurde.

 

Die vergessene Geschichte

 

Wie mag es gekommen sein, dass ausgerechnet durch den Aargau einst ein Hauch von Havanna wehte? Hatte das auch mit der Globalisierung und dem transnationalen Rohstoffhandel zu tun?

 

Eigentlich ein gutes Thema für eine Seminararbeit.

 

Semester- oder Seminararbeiten stressfrei abgeben: 5 effektive Tipps, um deine schriftliche Arbeit stressfrei abzugeben

 

Aber wir schreiben das Jahr 2020. Wegen der Pandemie werden alle Lehrveranstaltungen via Zoom durchgeführt und die meisten Archive sind geschlossen. Was auf den ersten Blick ein Hindernis zu sein scheint, erweist sich auf den zweiten als gar nicht so wichtig.

Eine kurze Recherche fördert nämlich zutage, dass sich in den öffentlichen Archiven kaum Überreste der Schweizer Zigarrenindustrie befinden.

Ihre Geschichte scheint vergessen zu gehen.

Obwohl der Stumpen für mehrere Generationen von Schweizern (Schweizerinnen waren hier eher in der Minderheit) identitätsstiftend war, verschwand die Zigarrenindustrie im aargauischen «Stumpenland» still und leise. Mit den Firmenauflösungen wurden meist auch die Firmenarchive entsorgt, was zur Folge hat, dass kaum Quellen zu den Tätigkeiten der Zigarrenfabrikanten erhalten sind.

Heute existieren im Aargau noch vier Zigarrenhersteller. Sie sind sehr hilfsbereit und willens, ihre Firmenarchive zu öffnen. In diesen befindet sich aber fast ausschliesslich Werbematerial. In Menziken gibt es ein Tabak- und Zigarrenmuseum, welches die Überreste verschiedener Tabakfabriken gerettet hat. Dieses verfügt aber nicht über ein eigentliches Archiv, sondern nur über einen Estrich, auf dem in Kisten bisher unerschlossenes Material unerreichbar gelagert wird.

In der Ausstellung des Museums befindet sich jedoch die wohl grösste Sammlung an Werbe- und Verpackungsmaterial zu Zigarren aus der Schweiz.

 

Eine Verpackung erzählt

 

Bilder sagen auch in der Geschichtswissenschaft manchmal mehr als tausend Worte. Daran erinnert mich, kurz bevor ich das Thema mangels Quellen aufgeben will, unser erfahrenes Lehrteam – das mittlerweile selbst Feuer gefangen hat für diese Geschichte. Es weist mich auf eine gerade aktuelle Doku des TV-Senders ARTE hin, die anhand eines Bildes des holländischen Malers Jan Vermeer aus dem Jahr 1657 die ganze Geschichte der Globalisierung erzählt.

Gibt es auch bei der Aargauer Zigarrenindustrie ein solches Bild? Nach kurzer Suche wird mein durch die ARTE-Doku geschärfter Blick fündig.

Die Verpackung der Stumpenmarke «Rio Grande», die seit 1874 praktisch unverändert geblieben ist, erzählt fast die ganze Geschichte. Über geprägten Goldmedaillen enthält sie in verschnörkelter roter Schrift auf weissem Grund die Texte «Cigares Weber», «Rio Grande» und «Fabriqués de Tabacs Supérieurs du Brésil».

 

Artikel_Juerg_Flueckiger (6)

 

Vom Webstuhl an den Wickeltisch

 

Es war der Textilverleger Samuel Weber, der 1838 in Menziken die erste Zigarrenfabrik im Aargau gründete. Sein Übergang zur Tabakindustrie ist bezeichnend für die ganze Region des Unteraargaus, die durch die aufkommende Mechanisierung der Weberei in Bedrängnis geriet.

Weil das kleine Flüsschen Wyna zu wenig Kraft hatte, wanderten die Textilfabriken an die grossen Flüsse Limmat, Reuss und Aare ab und wer nicht mitwanderte, war von Armut bedroht. Die strukturellen Probleme wurden noch verschärft durch die allgemeine Wirtschaftskrise der Jahre 1845 bis 1849, in der wohl letztmals in der Schweiz breite Kreise der Bevölkerung Hunger leiden mussten.

Wer arm war und eine Chance hatte, wanderte aus, zum Beispiel in die Vereinigten Staaten von Amerika, wohin es 1847 auch Samuel Webers zweitältesten Sohn Johannes zog. Neun Jahre zuvor hatte der offensichtlich geschäftstüchtige Unternehmersohn nach einem Aufenthalt im Bernbiet seinem Vater vorgeschlagen, mit der Tabakproduktion zu beginnen.

Der Dreiundfünfzigjährige liess sich überzeugen und gründete 1838 die «Band- und Tabakfabrik S. Weber».

Sohn eines Textilverlegers war auch Johann Jakob Eichenberger aus Beinwil am See und auch er wandte sich dem Tabak zu. 1850 folgte Heinrich Hediger Söhne und 1853 Gautschi & Hauri.

Auch die beiden in Reinach gegründeten Firmen hatten ihr Startkapital aus der sich langsam zurückziehenden Textilindustrie. Diese bot ebenfalls freiwerdende Gebäude für die Aufnahme der Fabrikarbeit. Das Kapital und der Raum der Textilindustrie und verwandter Gewerbe erleichterten nicht nur den Aufbau der neuen Branche, sondern führten auch dazu, dass sich die Tabakfabrikanten von Anfang an auf die Herstellung in Fabriken konzentrierten und zu Beginn kaum Heimarbeiterinnen und Heimarbeiter suchten.

Die Zigarre erreichte die Schweiz erstmals anfangs des 19. Jahrhunderts in Form der Kopfzigarre, deren Mundende mit einem Ausschnitt aus dem Deckblatt verschlossen wird und die vor dem Rauchen angeschnitten werden muss.

Die ersten Kopfzigarren wurden aus Deutschland und Holland importiert, weshalb man sie als «deutsche Fasson» bezeichnete. Nach landläufiger Überlieferung waren es Westschweizer Zigarrenhersteller, die um 1850 als erste Zigarren «französischer Fasson», sogenannte «Bouts Coupés», herstellten. Indem sie Zigarren in doppelter Länge wickelten und anschliessend in zwei ungefähr zehn Zentimeter lange «Stumpen» schnitten, sparten sie das aufwändige Verschliessen des Kopfendes, wodurch die Stumpen wesentlich billiger verkauft werden konnten.

Um 1870 begannen auch die Deutschschweizer Zigarrenhersteller mit der Produktion von Stumpen, welche als «Zigarre des einfachen Mannes» grossen Anklang fanden.

 

«Die Ereignisse in fernen Erdtheilen»

 

Zum «Stumpenland» wurde das Wynen- und Seetal schlagartig, als 1862 ein Grossauftrag die junge Zigarrenindustrie in neue Sphären katapultierte, was 1870 vom Rupperswiler Pfarrer Johann Rudolph Müller so beschrieben wurde:

 

Am schwunghaftesten – dass wir nicht sagen, am fabelhaftesten – wurde die Industrie im Jahr 1862 und 1863 in der Gegend betrieben; diese Episode beweist zugleich, wie die Ereig-nisse in fernen Erdtheilen ihre Wellenschläge zu uns herübersenden. Agenten der nordameri-kanischen Armeelieferanten schlossen mit einem Tabakfabrikanten Verträge ab, nach wel-chen derselbe monatlich anfangs 4, dann bis 10 Millionen Stück Cigarren liefern sollte.

Wer der glückliche Fabrikant war, der den Grossauftrag aus dem amerikanischen Sezessionskrieg erhielt, ist nicht überliefert. Der Aargauer Historiker Andreas Steigmeier spekuliert, dass es Weber Söhne gewesen sein könnte. Sie konnten ihr Eigenkapital von 1858 bis 1866 von CHF 60'000 auf CHF 260'000 vervierfachen und Gottlieb Weber, der nach dem Tod seines Vaters 1861 zum Teilhaber geworden war, baute sich just 1865 gegenüber dem Fabrikareal eine klassizistische Villa namens «Concordia», die mit ihren zwölf Zimmern zum Luxuriösesten gehörte, was das Wynental bis anhin gesehen hatte.

Ausserdem hatte er Kontakt zu seinem Bruder Johannes, der 1847 nach Amerika ausgewandert war und – auch das ist reine Spekulation – den Deal mit den amerikanischen Armee-Einkäufern eingefädelt haben könnte.

Tatsache ist, dass keiner der Fabrikanten in der Lage war, diesen Grossauftrag, der, so Müller, dazu führte, dass «Tabakfuhren […] fast so zahlreich auf den Strassen [waren], wie Heufuhren in der Heuernte», allein auszuführen. Auch den angeheuerten Unterlieferanten wäre es nicht möglich gewesen, so schnell so viele Zigarren zu produzieren. Folglich wurden im grossen Stil Heimarbeiterinnen und Heimarbeiter rekrutiert.

Das Strohfeuer, welches der amerikanische Grossauftrag erzeugt hatte, verlöschte spätestens mit dem Ende des Sezessionskriegs im April 1865. Durch die Heimarbeit waren aber weite Bevölkerungskreise im Wynen- und Seetal mit der Tabakverarbeitung vertraut geworden und viele ehemalige Heimarbeiter machten sich nun selbständig, um den steigenden Tabakkonsum in der Schweiz zu bedienen.

Auf diese Weise, als Hausindustrien, entstanden in den 1860er Jahren am Rand der bisherigen Produktionsregion weitere Zigarrenmanufakturen. Zu den typischen Hausindustrie-Dörfern gehörte zum Beispiel Beinwil am See, wo 1914 sechzehn Zigarrenfabriken gezählt wurden, oder auch Burg, wo Rudolf Burger und Rudolf Eichenberger 1864 einen Kleinbetrieb gründeten, der es nicht nur bis ins 21. Jahrhundert schaffte, sondern seit der Übernahme von Dannemann 1988 zu den drei weltweit grössten Zigarrenherstellern gehört.

 

Artikel_Juerg_Flueckiger (5)

 

Mit rund 2'000 Fabrikbeschäftigten nahm die Zigarrenindustrie Mitte der 1880er Jahre in der Region bereits eine überragende wirtschaftliche Stellung ein und beschäftigte vier Fünftel aller vom Fabrikgesetz erfassten Arbeitskräfte im Bezirk Kulm.

Und sie dehnte sich weiter aus.

In den dreissig Jahren nach der Betriebszählung von 1882 wuchs sie um das Anderthalbfache und erreichte schliesslich 1911 mit 68 Betrieben und 3'204 Angestellten ihren Höhepunkt. Dazu kamen um die 370 Heimarbeiterinnen und Heimarbeiter und eine unbekannte Anzahl von Familienbetrieben, die auf eigene Rechnung arbeiteten und somit weder als Heim- noch als Fabrikarbeiter/innen gezählt wurden.

Mitten in dieser Wachstumsphase wurde im Jahr 1888 im luzernischen Pfeffikon, gleich neben Menziken und Reinach, die wohl bekannteste Schweizer Zigarrenfabrik gegründet: Villiger Söhne.

 

Artikel_Juerg_Flueckiger (2)

 

Direktor Obrist ist besorgt

 

1952 verfasste Karl Obrist, der Direktor der Bank in Menziken, zum hundertjährigen Bestehen seiner Bank eine «Denkschrift» mit 140 Seiten. Darin erzählte er nicht nur die Geschichte der Bank, sondern äusserte sich auch über die politische Entwicklung im Aargau, über dessen Landwirtschaft und über das Handwerk und Gewerbe.

Besorgt stellte er fest, dass der Erste Weltkrieg

dem Konsum der maschinell hergestellten Zigarette zu starken Auftrieb gegeben [hatte], als dass die Folgen in der Zigarrenindustrie auf die Länge nicht spürbar geblieben wären.

 

In der Tat war der Absatzrückgang ab 1920 nicht nur eine Delle im Konjunkturverlauf, sondern der Beginn einer für die Zigarrenindustrie sehr schmerzhaften Verlagerung der Publikumsgunst. Die Zigarette passte besser zur mit der Mechanisierung und Motorisierung verbundenen Beschleunigung des modernen Lebens als der beschauliche Stumpen.

Auch wenn die Anzahl der Fabriken sich in den zehn Jahren zwischen 1929 und 1939 noch einmal von 44 auf 61 erholte und sich manche Zigarrenmarke bis weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts halten konnte, war der langsame Niedergang der Aargauer Zigarrenindustrie nicht mehr aufzuhalten.

 

Wo sind die globalen Geld- und Warenströme?

 

Da ist sie also, die Geschichte des «Stumpenlandes». Nachzulesen beim Aargauer Historiker Andreas Steigmeier, der vor 20 Jahren ein reich bebildertes Buch darüber verfasste.

Doch für mich ist das nur die halbe Geschichte. Wo sind die globalen Geld- und Warenströme? Und warum steht auf der Verpackung der «Rio Grande» «Fabriqués de Tabacs Supérieurs du Brésil»?

Einen ersten Hinweis liefert wieder Karl Obrist. In seiner «Denkschrift» von 1952 ist zu lesen, dass der Einkauf der Rohtabake, insbesondere der «Sumatra- und Java-Tabake, welches die teuersten Sorten sind» und in Amsterdam und Rotterdam gehandelt würden, eine Angelegenheit sei, «die besondere Kenntnisse und viel Erfahrung und Geschick erfordert».

Da dies besonders für die «mittlern und kleinen Fabrikanten keine leichte Sache» war, traten «ein knappes halbes Duzend» Tabakagenten in die Lücke, «welche ein für die Tabakindustrie sehr nützliches Bindeglied zwischen Fabrikant und Händler darstellen». Die fünf namentlich erwähnten und zwischen 1886 und 1936 gegründeten Tabakagenturen, die alle ihr Domizil in der Region hatten, hatten sich offensichtlich spezialisiert auf die Beschaffung der Kolonialware Tabak.

 

Sumatra statt «Murtener Chabis»

 

Um zu verstehen, warum die Zigarrenfabrikanten aus dem Aargau ihren Rohstoff aus Kolonien bezogen, muss man wissen, dass die Herstellung von Zigarren derjenigen von Wein gleicht.

Bei beiden Produkten sind die klimatischen Bedingungen und die Bodenbeschaffenheit ausschlaggebend für den Geschmack des Endproduktes. Wie beim Wein, ist auch bei Zigarren das «Terroir» entscheidend, und ein geübte/r Zigarrenraucher/in kann bei einer Blinddegustation erraten, aus welchen Tabak-Provenienzen eine Zigarre hergestellt wurde.

Obwohl seit dem frühen 18. Jahrhundert insbesondere in der Waadt und in den freiburgischen Gebieten des Broye- und Seebezirks in bedeutendem Ausmass Tabak angebaut wurde, mussten die Zigarrenfabrikanten im «Stumpenland» bald einmal erkennen, dass sich dieser im Volksmund abschätzig «Murtener Chabis» genannte Tabak nicht zur Herstellung von qualitativ guten Zigarren eignete.

Auch hier scheint einmal mehr Samuel Weber ein Vorreiter gewesen zu sein.

Dass Überseetabak ein besonderes Qualitätsmerkmal war, bewies die Firma Weber Söhne mit dem Aufdruck «Fabriqués de Tabacs Supérieurs du Brésil», der ab 1874 die Verpackung ihrer ersten Stumpenmarke «Rio Grande» zierte.

 

Patumbah

 

Besonders Tabak aus Brasilien und von der indonesischen Insel Sumatra war ein begehrter Rohstoff für die Schweizer Zigarrenfabrikanten. Noch heute können Raucherinnen und Raucher, die sich für Schweizer Zigarren entscheiden, auswählen aus den beiden Kategorien «Brasil» und «Sumatra», entsprechend der Herkunft des Deckblattes.

Obwohl es mit den vorhandenen Quellen nicht belegt werden kann, ist es naheliegend, dass dies neben der hohen Qualität der Rohtabake aus diesen Provenienzen noch einen anderen Grund hatte: Von allen Schweizern, die sich im 19. Jahrhundert in den Tropen aufhielten, waren in Brasilien und auf Sumatra am meisten zu finden. Dort betätigten sie sich auffallend oft als Tabakpflanzer.

So zum Beispiel auch Carl Fürchtegott Grob (1830-1893).

Just in dem Moment, als ich nach den Verflechtungen der Aargauer Zigarrenfabrikanten mit den Kolonien forsche, flattert die Zeitschrift des Schweizer Heimatschutzes ins Haus und erzählt mir die Geschichte von ihm und seiner sagenumwobenen Villa Patumbah:

1869 reiste der 39-jährige Bäckerssohn aus dem Zürcher Niederdorf gemeinsam mit seinem deutschen Bekannten Hermann Näher nach Sumatra, um im aufkommenden Eldorado der Plantagenkultur das grosse Geld zu machen. Im Sultanat Serdang im Nordosten der Insel Sumatra erwarben sie Landkontrakte für ein mehr als 25'000 Hektar grosses Stück Urwald, aus welchem sie das indigene Volk der Batak verdrängten und durch Rodungen eine Tabakplantage machten.

Damit beteiligten sich Näher und Grob an dem, was der Historiker Andreas Zangger in seiner Dissertation als

das weltweit grösste koloniale Projekt tropischer Agrikultur

bezeichnet.

Auf ihrer Plantage beschäftigten sie rund 2'500 chinesische Tagelöhner und Wanderarbeiter – sogenannte «Kulis» – und 1'800 Arbeiter aus Java und Indien – zu sklavenähnlichen Arbeitsbedingungen.

1879 kehrte Carl Fürchtegott Grob als schwerreicher Mann in die Heimat zurück und heiratete zwei Jahre später mit 51 Jahren die 17 Jahre jüngere Schwester seiner Schwägerin, Anna Dorothea Zundel, mit der er zwei Töchter hatte.

Mit seinem auf Sumatra gemachten Vermögen erwarb er 1883 in Zürich-Riesbach ein 13'000 Quadratmeter grosses Stück Land und liess sich in der sonnenverwöhnten Lage inmitten eines grossangelegten Parks eine prunkvolle Villa im Stil des Historismus bauen, die er Patumbah taufte, was auf Sumatra bedeutete:

ein Ort, an dem man sich wohlfühlt.

Lange konnte sich Grob allerdings auf Patumbah nicht wohlfühlen. Er verstarb 1893 mit nur 63 Jahren. Seine Frau und die beiden Töchter verblieben für weitere 20 Jahre in der Villa, bevor ihnen der Unterhalt zu teuer wurde und sie deshalb Patumbah dem Diakoniewerk Neumünster vermachten und in eine Dreizimmerwohnung umzogen.

Patumbah wurde von 2010 bis 2013 aufwändig restauriert und ist heute ein Museum und der Sitz des Schweizer Heimatschutzes.

 

Schweizer an den «Frontiers» der Kolonien

 

Die Plantage von Näher und Grob war die grösste von insgesamt 59 Tabakplantagen, die von Schweizern auf Sumatra eröffnet wurden. Angesichts der Gesamtzahl von 150 bis 200 Plantagen, die vor 1914 auf der Insel bestanden, kommt Andreas Zangger zum Schluss, dass Schweizer in einem überproportionalen Mass an diesem gigantischen Kolonialprojekt beteiligt waren.

Gemäss ihm waren sie ausserdem stark in den Aufbau und die Entwicklung der Plantagenkultur involviert. Zu stark, als dass ihr Engagement einfach als wirtschaftliche Tätigkeit im Ausland bezeichnet werden könnte, bei der sie sich, wie andere auch, im Rahmen lokaler Gesetze und Machtverhältnisse entfalteten.

Die Schweizer Tabakpflanzer spielten eine entscheidende Rolle bei der Ausbreitung der Kolonialherrschaft.

Sie begünstigten nicht nur als Pioniere an den Rändern des Kolonialgebiets – den sogenannten «Frontiers» – die Landnahme durch die niederländische Kolonialverwaltung und das westlichen Grosskapital, sondern waren auch mitbeteiligt an der Entwicklung der gesetzlichen Rahmenbedingungen der Plantagenkultur und der sozialen Strukturen auf den Plantagen.

Ihre Plantagen dienten ihnen dabei nicht nur als Quelle des schnellen Geldes, sondern – ähnlich wie den Baumwollpflanzern und Sklavenhaltern in den amerikanischen Südstaaten – auch als Projektionsfläche für romantische Vorstellungen von männlicher Selbstbestätigung.

 

Das Puzzle setzt sich zusammen

 

Langsam setzt sich das Puzzle zusammen und durch das Wimmelbild vom «Stumpenland» beginnt ein roter Faden sichtbar zu werden:

Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wehte also ein Hauch von kubanischer Exotik durch das Aargauer Seetal und das benachbarte Wynental. Textilfabrikanten suchten eine Ausweichstrategie zur überhandnehmenden Industrialisierung, mit der die lokale Handweberei nicht mithalten konnte.

Ihr Erfolg in einer Region, die weit ab war von den Anbauregionen des Tabaks, den sie für die Herstellung ihrer Zigarren verwendeten, war nur möglich durch die ab der Mitte des 19. Jahrhunderts aufkommende Globalisierung. Sie gab ihnen Zugang zu Rohstoffen aus dem globalen Süden und zu neuen Märkten im Westen.

Überseetabak war für die Zigarrenfabrikanten ein kritischer Erfolgsfaktor, den sie sich zunehmend nicht nur aus Nord- und Mittelamerika besorgten, sondern von Plantagen in Brasilien und auf Sumatra.

Dabei wurden sie Teil des grössten Projekts kolonialer Agrikultur, das die Welt je gesehen hatte.

Dies war vermutlich nicht nur auf ihre unablässige Suche nach den besten Deckblättern zurückzuführen, sondern auch auf den Umstand, dass auf der anderen Seite der Lieferkette Schweizer Auswanderer in überproportionalem Ausmass am Aufbau dieses gigantischen Plantagenprojekts auf Sumatra beteiligt waren.

Diese Teilnahme am Kolonialismus führte nicht nur dazu, dass Schweizer im Windschatten der niederländischen Kolonialmacht mithalfen, die Sozialstrukturen im heutigen Indonesien nachhaltig zu verändern. Sie hatte, wie so oft, auch Rückwirkungen auf die Gesellschaft hier.

 

Ein Brasil- oder Sumatra-Stumpen zum Jass

 

So war zum Beispiel für Generationen von Schweizer Arbeitern und Bauern der Genuss eines Brasil- oder Sumatra-Stumpens nach Feierabend oder beim Jass ein Merkmal der nationalen Identität.

Die Produkte aus dem «Stumpenland» hinterliessen auch Bilder von exotischen Tropenparadiesen und ihren Bewohnern in den schweizerischen Köpfen. Anders als die Schweizer Milchschokolade, die ebenfalls ab der Mitte des 19. Jahrhunderts hergestellt wurde, als die Hochphase des europäischen Kolonialismus und die erste Globalisierungswelle es Schweizer Fabrikanten erstmals ermöglichten, auf Rohstoffe aus dem globalen Süden, wie Kakao und Tabak, zuzugreifen, wurden sie so verpackt und beworben, dass keine Zweifel aufkamen an den edlen Überseetabaken, die für ihre Herstellung verwendet wurden.

Die Zigarrenkistchen und Stumpenschachteln wurden verziert mit Tabakpflanzen, exotischen Menschen und kolonialen Anwesen.

 

Artikel_Juerg_Flueckiger (4)

 

Mit nostalgischen Segelschiffen und modernen Flugzeugen wurde das Fernweh geweckt und mit abenteuerlich klingenden Namen wie «Lasso», «Bill» oder «Indiana» wurden Identifikationsflächen geschaffen.

 

Artikel_Juerg_Flueckiger (3)

 

Viele Vermutungen und ein Estrich der Hoffnung

 

Das Rätsel ist also gelöst. So scheint es gewesen zu sein.

Vieles daran ist aber nur eine Vermutung. Auch wenn die Indizien dafürsprechen, lässt es sich nicht belegen.

Denn mit dem stillen Untergang der Zigarrenindustrie im «Stumpenland» sind auch viele Quellen in der Versenkung verschwunden. Ob sie dereinst wieder auftauchen werden oder für immer verloren sind, kann nicht gesagt werden.

Das Tabak- und Zigarrenmuseum in Menziken hat einen Estrich, der eine leise Hoffnung aufkommen lässt.

Doch viele Fragen bleiben offen. So sind die transnationalen Geld- und Warenströme immer noch weitgehend im Dunkeln und auch die Spuren nach Brasilien verlaufen in der Pampa.

Selbst der Zusammenhang zwischen der Beteiligung von Schweizern an der Plantagenkultur auf Sumatra und der Verwendung von Sumatra-Deckblättern für Schweizer Zigarren ist lediglich eine Vermutung.

Die Erfahrung hat aber gezeigt: Selbst bei Pandemie und leeren Archiven lohnt es sich, nicht aufzugeben.

Und die Geschichte hat einen Nachspann: Nach der Seminararbeit erhalte ich Gelegenheit, einen Artikel darüber für das Magazin «NZZ Geschichte» zu schreiben. Kurz nachdem er erscheint, meldet sich bei mir ein Nachfahre des Aargauer Zigarrenpioniers Samuel Weber.

Er hat ein Privatarchiv…

 

Weiterführende Literatur

Flückiger Jürg, Stumpenland, in: NZZ Geschichte, Nr. 38 (Februar 2022), 54-66.

Merz Susi (Hg.), Tabago – Tabak- und Zigarrenmuseum aargauSüd, Menziken 2002.

Steigmeier Andreas, Blauer Dunst: Zigarren aus der Schweiz gestern und heute, Baden 2002.

Zangger Andreas, Koloniale Schweiz: ein Stück Globalgeschichte zwischen Europa und Südostasien (1860 - 1930), Bielefeld 2011.

Tabak- und Zigarrenmuseum aargauSüd

Gütschstrasse 6, 5737 Menziken, www.tabakmuseum.ch

(sehr begrenzte Öffnungszeiten, bitte vor einem Besuch die Website konsultieren)

 

 

Kategorien : Incredible Heroes