Geschichtsvermittlung durch Dokumentationen, populärwissenschaftliche Zeitschriften und Gedenktagsjournalismus ist, wie wir im letzten Blogbeitrag gesehen haben, eine zumindest verdächtige Angelegenheit. Dennoch soll und muss sich die historische Forschung, um gesellschaftliche und politische Relevanz zu haben, mit neuen Formen der Vermittlung auseinandersetzen. Dokumentationen und historische Zeitschriften sind dabei nur eine Möglichkeit, Geschichte auf kreative Weise fassbar zu machen. In den letzten 20–30 Jahren haben sich auch immer mehr Museen zunehmend Methoden der Vermittlung zunutze gemacht, die die Rezipienten nicht nur durch den dominierenden Sehsinn, sondern durch weitere Wahrnehmungsformen stimulieren sollen, um historische Lebenswelten unmittelbarer zugänglich zu machen.
In wissenschaftlichen Geschichtspublikationen erfährt der Leser, was historischen Akteuren geschehen ist, was sie haben geschehen lassen, woran sie beteiligt waren, welche Beziehungen sie hatten, wie sie lebten und wie sie starben. Histotainment-Angebote und populärwissenschaftliche Publikationen bieten im Gegensatz zu wissenschaftlichen Veröffentlichungen eine emotionalisierte und simplifizierte Version, die für ein breiteres und diverseres Publikum zugänglich ist.Statt wissenschaftlicher, «unverständlicher» Sprache und zu vielen detaillierten Schilderungen soll Historie griffig, unterhaltsam und in Alltagssprache präsentiert werden. Soll Geschichte erfolgreich von möglichst vielen Empfängern rezipiert werden, muss das Medienprodukt auch empfängergerecht verfasst sein. Ein populär-historisches Magazin wie G/GESCHICHTE in hochwissenschaftlicher Sprache zu verfassen, macht ebenso wenig Sinn, wie ein historisches Fachjournal mit vielen pop-kulturellen Bildern zuzupflastern.
Moderne Museen und Ausstellungen gehen sowohl über den rein intellektuell-wissenschaftlichen wie auch den emotionalen, populärwissenschaftlichen Wissenstransfer hinaus, indem sie die narrativen Konstruktionen der Geschichtsschreibung mit konkreten Objekten (materiellen und immateriellen) verbinden, die Geschichte sozusagen «live und in Farbe» oral, bildlich, haptisch und sogar olfaktorisch erfahrbar machen. Nicht nur dabei, sondern mittendrin sollen wir als Museumsbesucher sein. Die Suggestion einer erhöhten Identifikation und Nähe mit historischen Personen und Ereignissen durch die unmittelbare Erfahrung von «historischen» Gerüchen, Berührungen oder Geräuschen beruht auf einem ähnlichen Effekt wie die Einfärbung historischer Fotografien oder Filmbildern, wie etwa im Buch von Dan Jones und Marina Amaral «Die Welt von gestern in Farbe» oder in Peter Jacksons Dokumentarfilm «They shall not grow old» mit eingefärbten und neu vertonten Filmaufnahmen aus dem Ersten Weltkrieg. Die fremde Zeitenwelt nähert sich uns durch das Vertraute – eine Welt in Farbe wirkt weniger abstrakt als Bilder in Schwarz-Weiss. Auf ähnliche Weise verbindet uns die Berührung eines Objekts oder der Geruch einer nachgekochten, mittelalterlichen Mahlzeit mit den Menschen, die Ähnliches in der Vergangenheit berührt oder gerochen haben. Die fremde Welt erscheint uns näher, bekannter, unmittelbarer.
Szene aus «They shall not grow old» (https://www.newyorker.com/news/daily-comment/a-few-thoughts-on-the-authenticity-of-peter-jacksons-they-shall-not-grow-old) © Fathom Events / Everett
So können beispielsweise im «Saaremaa Museum» in Kuressaare (Estland) historische Schwerter und Schilde nicht nur in der Vitrine betrachtet, sondern gleichzeitig moderne Duplikate in die Hand genommen werden, um das Gefühl des Kriegers, wenn er diese Gegenstände ergriff, nachzuempfinden. Das «Musée de Saint-Antoine-l’Abbaye» im Département Isère präsentiert mit «Parfums d’histoire, du soin au bien-être» eine Dauerausstellung, die es den Besuchern ermöglicht, am Parfüm von Napoléon Bonaparte oder Marie-Antoinette zu schnuppern. Tatsächlich öffnet sich durch die Nase ein sinnliches Fenster zur Vergangenheit, das die Menschen hinter den zuweilen beinahe als historische Klischees eingefrorenen Akteuren fühlbar und erfahrbar macht. Eine ähnliche Wirkung hat auch die Ansicht der Turnringe und der Sprossenwand von Kaiserin Elisabeth in der Wiener Hofburg. Mitten im Prunk der kaiserlichen Gemächer und der Kopien der prunkvollen Kleider und des Schmucks sieht man förmlich die Alltagsfrau Elisabeth, die sich in diesen Turngeräten abmüht – hinter der schönen, unnahbaren Kaiserin oder dem verkitschten Romy Schneider-Mythos –, aufblitzen. Für mich persönlich war dieser Moment eines der Highlights des Sisi-Museums in Wien: Das erste Mal war mir die bisher für mich uninteressante Kaiserin nahe genug, dass ich mir anschliessend die sehr empfehlenswerte Biografie von Brigitte Hamann kaufte.
Elisabeths Turnzimmer (https://www.wien.info/de/kunst-kultur/imperiales/kaiserappartements-349526) © WienTourismus/Paul Bauer
Viele Museen gehen noch über diese Stimulation einzelner Sinne hinaus und setzen auf nachgestellte, historische Szenen, die mit Ton und Effekten ausgestattet werden, um Haptik, Gehör und Sehsinn (manchmal auch olfaktorische Wahrnehmung) gleichzeitig anzusprechen, um den Besucher die Geschichte «erleben» zu lassen. Ein beeindruckendes Beispiel ist das «Museum des Warschauer Aufstands» in Warschau, in welchem auf vier Ebenen historische Stadtpläne, Fotografien, Filmausschnitte und Ausstellungsobjekte durch moderne audiovisuelle und multimediale Kommunikationstechniken ergänzt werden. Insbesondere die Nachstellung der Warschauer Abwasserkanäle, in denen die Besucher eine (ferne, sehr ferne, aber dennoch) Ahnung erhalten, welche Beklemmung und Angst die Aufständischen in dieser Enge empfunden haben müssen. Hier ist auch, bei allen positiven Absichten der Vermittlung, eine Grauzone erreicht, die einen nach dem Besuch mit Fragen zu moralischen Grenzen der Ästhetisierung und zur scheinbaren Erlebbarkeit der dunkleren Seite von Geschichte zurücklässt. Verkitschen wir den Warschauer-Aufstand mit unserem scheinbaren Nach-Empfinden in diesem Kanal nicht? Wenn wir nach einem kurzen Moment der Beklommenheit rasch das Licht wieder erblicken, zwar ein bis zwei Minuten in der Dunkelheit herumstolpern und dabei Gefechtslärm hören, aber weder Gestank, Hunger, das reale Stöhnen verletzter Menschen, herumliegende Leichen oder wahre Panik das Bild ergänzen, wird die Nachstellung zu einem sterilen Raum der Pseudo-Emotion degradiert. Ist dies dann nicht eher ein Lust-Schaudern, ähnlich wie beim Ansehen eines Gruselfilms? Und vermittelt uns diese nicht eingestandene Faszination am Grauen tatsächlich etwas Sinnvolles über Geschichte? Welche Erkenntnisse werden damit generiert? Die Grenze zwischen emotionalem Eintauchen in die historische Welt, um sie nachvollziehbarer zu machen, und dem gedankenlosen Konsum von Oberflächenreizen ist in dieser Art musealer Darstellung recht schmal. Im Fall des Museums in Warschau ist sie allerdings noch vorhanden, da der nachgestellte Tunnel im Kontext der restlichen Ausstellung von den meisten Zuschauern gewiss korrekt eingeordnet werden kann.
Nachstellung Kanäle unter Warschau (https://warsawtour.pl/de/project/museum-des-warschauer-aufstands) © Muzeum Powstania Warszawskiego, fot. m.st. Warszawa
Wo ist also die Grenze der sinnlichen Vermittlung zu Kitsch und Disneyfizierung? Zu einem Ausverkauf, der nichts mehr mit Faktenvermittlung durch verschiedene Methoden und Sinneserlebnissen zu tun hat, sondern nur noch Selbstzweck ist, um Geschichte im Sinne von Theodor W. Adornos verwalteter Kunst zu kommerzialisieren und damit bedeutungslos zu machen.
Bei der Betrachtung der Geschichtsvermittlung durch Museen muss man sich bewusst sein, dass sie in einer Gesellschaft, die nach kapitalistischen Parametern funktioniert, zu Kosteneinheiten geworden sind, die ebenso wie alle anderen unter Druck stehen, mehr Zuschauer anzulocken, um den Gewinn zu steigern. Dabei finden sie sich in der Zwickmühle zwischen Rentabilität und anspruchsvoller Vermittlung. Gerade jüngere Menschen interessieren sich gemäss Umfragen nur noch wenig für Museen. Um diese Gruppen anzulocken, müssen Museen zwingend auf museale Darstellungen nach den Gesetzen moderner Filme, Serien und TikTok-Clips setzen. Das Problem des Anspruchsverlusts an seriöse Vermittlung, der Auflösung von Reflektivität und der zunehmenden Distanz zur tieferen Bedeutung historischer Ereignisse als Lebenswelten tatsächlicher Menschen zeigt sich an einigen Museen zum D-Day in der Normandie.
Bei einer Reise in die Normandie ist der Besuch eines der zahlreichen D-Day-Museen natürlich Pflicht. Dabei sind die Niveauunterschiede der Ausstellungen allerdings erheblich. Wo einige Museen die Kurve zwischen «hollywoodlogischer» Szenendarstellung und bedrückender Erinnerung (so beispielsweise im «Musée du mur de l’Atlantique – Batterie Todt») noch kriegen, wird sowohl die Vermittlung von Information wie auch die Erzeugung von erwähnter Reflektivität, ja selbst von Emotionen, zuweilen durch eine Überflutung der Sinne verhindert. Die aufgebauten Kampfszenen mit viel Lärm und kitschiger Hollywood-Musik sind oberflächlich, grell und schnell wieder vergessen.
Batterie Todt mit dem originalen Eisenbahngeschütz «Leopold» © Claudia Luthiger
Die dazwischen gestreuten Informationen stehen nicht in Kontext mit dem Gezeigten und werden von den meisten Besuchern sowieso nicht gelesen, da sie von Musik, Maschinengewehrsalven, Lichtblitzen im Halbdunkeln und model-schönen Puppen in diversen Uniformen abgelenkt werden. Wirklich gute und zum Nachdenken anregende Exponate wie der Helm eines polnischen Soldaten mit Einschussloch, der neben dem Inhalt seines Tornisters ausgestellt und mit Erklärungen zur Beteiligung polnischer Truppen am D-Day kontextualisiert wird, gehen im Brimborium unter. Man sehnt sich nach Ruhe, um die Informationen und Eindrücke zu verarbeiten.
In einem einzigen Museum wird dieser Effekt am Ende aufgehoben: In einem schlichten Gang finden die Besucher endlich die Ruhe, um etwas wahrzunehmen. An den Wänden hängen Fotografien von D-Day-Veteranen neben Bildern ihrer jungen ICHs der 1940er-Jahre und Auszügen ihrer Erlebnisse während der Landung. Diese Bildstrecke kommt ohne Interaktivität aus; aber diese Gesichter, geprägt vom Leben und ihren Erinnerungen in aller Vielfältigkeit und Komplexität, der gleichzeitige Blick auf ihre noch unbeschwerte Vergangenheit vor Landung und Krieg und die Auszüge aus ihren Erinnerungen, sind lernreicher und emotional zugänglicher als die Übersättigung der Sinne durch die vorangehende Ausstellung.
Alter und junger Ray Lambert, medic with 2nd Battalion, 16th Infantry Regiment, Fotografien von Ian Patrick © Claudia Luthiger
Neue Formen der Geschichtsvermittlung in Museen und Ausstellungen, die andere Sinne als den dominanten Sehsinn ansprechen, sind sinnvoll, um andere Facetten der Geschichte zu entdecken, die Empathie mit historischen Akteuren zu erhöhen oder um uns fremd erscheinende Wahrnehmungen und Emotionen historischer Akteure sowie deren Konstruktionen und Interpretationen der eigenen Lebenswelt besser verstehen zu lassen. Der Besuch in einer historischen Epoche ähnelt dem einer fremden Welt, in der wir die Sprache nicht verstehen. Ähnlich wie beim Erlernen einer Fremdsprache das regelmässige Hören der Sprache in Filmen hilfreich für den Lernprozess der Sprache sein kann, kann die Stimulierung mehrerer Sinne hilfreich sein, um uns in diesen fremden Räumen zu orientieren und sie besser zu verstehen. Dennoch bewegt sich diese Art der historischen Vermittlung auf einem schmalen Pfad zwischen verkitschten, übertriebenen Oberflächenreizen und dem Bestreben, möglichst wissenschaftlich saubere Ergebnisse zugänglich und unterhaltsam zu präsentieren. Die einzige Methode, um herauszufinden, ob historische Ausstellungen diesen Spagat hinkriegen, ist, sie selbst zu besuchen, und die Eindrücke auf sich wirken zu lassen.