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Geschichte und ihre Vermittlung – Beziehungsstatus: es ist kompliziert!

Geschrieben von Claudia Luthiger | 17.05.23 09:22

Warum studierst du eigentlich Geschichte? Was bringt denn Geschichte genau? Also in der Schule fand ich das immer langweilig und das spielt doch alles auch keine Rolle mehr.

Diese Fragen und Bemerkungen sind ebenso häufig wie das begeisterte: 

Ah ja, ich habe Geschichte schon in der Schule geliebt und ich schaue ganz oft Geschichtsdokus und historische Filme. Hast du gewusst, dass...?

Ich gestehe es dir ganz ehrlich: zuweilen nerven mich beide Positionen – die eine, weil sie mein Studium und meinen Beruf grundsätzlich in Frage stellt und die andere, weil in der Begeisterung oft wahllos alles konsumiert wird, wo Geschichte (oder in den letzten zwanzig Jahren insbesondere Mittelalter) draufsteht und diese Infor-mationen unreflektiert verarbeitet und wieder gegeben werden. 

Nur ist da leider oft weder Geschichte und schon gar nicht Mittelalter drin, sondern im besten Fall ein bunter Mix aus «Herr der Ringe», «Wikipediaartikel», «Hollywoodmechanismen», «populärwissenschaftlichen Bestsellern» und ganz vielen historischen Mythen. Der ominöse Wikingerhelm mit Hörner lässt an dieser Stelle nett grüssen.
Aber sollten mich nicht beide Positionen, statt zu einem mehr oder weniger genervten Abwinken oder innerli-chen Augen verdrehen, zu einer vertieften Reflexion über das eigene Gebiet, seine gesellschaftliche Funktion und insbesondere seiner Vermittelbarkeit führen? 

Denn ja, wofür dient Geschichte und deren Erforschung denn nun eigentlich wirklich? 
Und wie soll sie vermittelt werden? 
Nur innerhalb der wissenschaftlichen Peer Groups mit der klassischen Vermittlung via Forschungsdo-kumentation und Konferenzen? 
Und ausserhalb, durch den Schulunterricht? 
Durch trockene Geschichtsbücher, die vielen Menschen die ganze Faszination der Themen oft ungenügend vermitteln können, weil sie sprachlich in wissenschaftlichen Termini verhaftet bleiben? 
Oder sollten wir uns doch den klassischen und neuen Medien und deren Möglichkeiten annähern? 

Vielleicht nerven diese Positionen auch nur, weil sie eine komplexe Fragestellung auf den Punkt bringen und mich (und andere) dazu zwingen, uns mit unserer Beziehung zu Geschichtsvermittlung durch populäre Medien auseinander zu setzen. 

 

Copyright - Dario Veronesi

 

Geschichte - Jahresdaten, grosse Männer, Schlachten…oder ist da noch mehr?

 

Jahresdaten, Epochen und das «Who is Who» der sogenannten grossen Männer und Frauen der Weltge-schichte mögen das Gerüst sein, damit man erst einmal weiss, von was man spricht. 
Viel wichtiger allerdings sind die kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Kontexte, die zahlreichen Verflechtungen, die alltäglichen Lebensumstände, die Machtstrukturen und Handlungsspielräume…und ja auch die Emotionen, die Interaktionen, ob mit anderen Menschen, Objekten oder nicht-menschlichen Tieren.

Der Gegenstand der Geschichte ist nicht «Vergangenheit», sondern diese unzähligen Stückchen von Gegen-wart, die asymmetrisch oder symmetrisch grössere Gegenwarten ergeben. Eine abgeschlossene Zeiteinheit «Vergangenheit» existiert nicht. Vergangenheit ist immer Gegenwart und Zukunft zugleich und weist über sich hinaus, d.h. betrifft nicht nur den Zeitgenossen als seine reale zeitliche Lebenswelt, sondern auch Vor- und Nachkommende. 

Unsere kulturellen, wissenschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Gegenstände und Überzeu-gungen sind nicht im luftleeren Raum entstanden. Sie haben eine lange Kontinuität, ohne welche wir unsere eigene Lebenswelt und unsere Identität nur schwer verstehen können. Historische Bildung trägt durch die Er-forschung dieser Entwicklungslinien zu einer erhöhten Fähigkeit der Einordnung aktueller Ereignisse, zur Schliessung historische Informationslücken durch Aufklärung und zur Fütterung des sozialen/kulturellen Ge-dächtnis bei. 

Zudem unterstützt sie die Fähigkeit bestehende gesellschaftliche Einstellungen zu hinterfragen oder zu bestärken, Identität zu konstruieren, neue Generationen historisch-politisch zu bilden und alternative Perspektiven darzustellen.

 

Copyright - Jens Auer

 

Geschichtsjournalismus und seine Herausforderungen

 

Neben den Bildungsinstitutionen nehmen inzwischen die Medien bei der Vermittlung dieser Bildung eine wichtige Rolle ein, da es ein relevantes, wechselseitiges Wirkungspotential zwischen Politik, Gesellschaft und Massenmedien gibt, welches unsere soziale Realität und unsere Strategien zur Interpretation von Fakten und der darauf basierenden Konstruktion unserer Meinungen und Lebenswelt stark beeinflusst. 

Diese alternative mediale Geschichtsvermittlung bietet einiges an Potential, um die im Geschichtsunterricht und in der Fachliteratur zuweilen trockene Materie für ein grösseres Publikum verständlich und lebendig zu vermitteln.
Das kulturelle Gedächtnis und die Erinnerungskultur wird durch mediale Geschichtsvermittlung mit geformt, welche vereinfacht dargestellt die Aufgabe hat über Geschichte zu informieren, historische Forschung für «je-dermann» zu vermitteln, der jeweils nachfolgenden Generation historisch-politische Bildung zu vermitteln, um damit den Generations-Gap zu schliessen und Erinnerung zu erhalten. 

Anders als im regulären Geschichtsunterricht und in der akademischen Forschung stellen sich der modernen Geschichtsvermittlung diverse Herausforderungen wie etwa die Frage der medialen Reichweite, die Gesetze der modernen Medienwelt und die Erwartungshaltungen eines demographischen und sozialen diversen Publikums. 

Geschichtsjournalismus möchte, wie jeder andere Journalismus, ein möglichst breites Publikum erreichen und ist daher gezwungen sich an dessen Bedürfnissen zu orientieren. Wie bereits der Kulturhistoriker Jörn Rüsen feststellte, besteht zwischen der kognitiven Dimension der Wissensvermittlung und der ästheti-schen/emotionalen (sowie politischen Dimension) eine nicht zu unterschätzende Abhängigkeit. 

 

Jörn Rüsen - Quelle: Wikipedia

 

Historische Dokumentationen - «Histotainment» zwischen Relevanz für den öffentli-chen Diskurs und Hollywood-Ästhetik

 

Die Relevanz dieses Konzepts lässt sich an den Entwicklungen der letzten vierzig Jahre recht gut aufzeigen: Waren Geschichtsdokumentationen in den 1960/70/80er stilistisch noch relativ trocken (wenn auch politisch aufgeladen), entwickelte sich seit Ende der 1990er eine neue Ästhetik. 

Beeinflusst vom Erfolg historischer Filme wie Ridley Scotts «Gladiator» (2001), wurden deren Stilmittel zuneh-mend vom Geschichtsjournalismus übernommen. Dokumentationen arbeiten inzwischen mit Spielszenen, Musikuntermalung und ästhetischen Konzepten der Filmindustrie («Hero Shot», Point of View-Shot, dramaturgische Kniffe wie «Red Herings» oder Planting, etc.). 

Dokumentationen und historische Filme, kurz das sogenannten «Histotainment», erreicht durch diese Anpassung an Normen der Unterhaltungsindustrie eine derartig grosse Masse an Menschen, von der die Ge-schichtswissenschaft nur träumen kann. Sie werden durch ihre immense Popularität zu einer handlungsleiten-den Form der Wertorientierung, wie dies sehr treffend bereits der Philosoph Ernst Cassirer feststellte. 

So kann einerseits auch die Form der Dokumentation im besten Fall historische Themen verdinglichen und die öffentliche Debatte überhaupt erst anregen, wie dies in den 1980er im Fall der Serie «Shoa» von Claude Lanzmann über den Holocaust geschah. 

Andererseits ist es hochproblematisch, dass der/dem Zuschauer/in durch vorherige Themenselektion des Er-stellers und emotionalisierende bzw. psychologisierende Stilmittel des Films (Schnitt, Bildauswahl, Kamerawinkel, Musik- und Tonunterlegung, Farbauswahl, Off-Screen-Erzählerstimme, deren Klangfarbe, Sprachrythmus, Kunstpausen, selbst Atempausen bewusst eingesetzt werden, etc.) ein fertiges Narrativ ohne alternative Deutungsmöglichkeiten geboten wird. Oftmals fehlt zudem der kritische Approach der bestehenden Mythen hinterfragt; im Gegenteil werden gerne oberflächliche Dichotomisierungen und Heroisierungen/Dämonisierungen reproduziert und im kollektiven Gedächtnis verankert, ohne dass dies neue Erkenntnisse oder Aufschlüsse über historische Strukturen generieren würde.

 

Populärwissenschaftliche Zeitschriften - Unmittelbarkeit durch Bildkitsch

 

Auch populärwissenschaftliche Geschichtsmagazine und -zeitschriften ziehen mittels Bilder und Texten Referenzen zur Ästhetik der Populärkultur. So ist etwa auf dem Titelblatt des G/Geschichte Portrait 3/2020 zum Thema «Elisabeth I» nicht etwa eine Abbildung der historischen Akteurin zu sehen, sondern ein Bild von Cate Blanchett aus dem Film «Elizabeth» von 1998. 

Obwohl diese Art der Vermittlung die Möglichkeit bietet, sich jenseits von Fachjargon und wissenschaftlichem Anspruch über ein Thema zu informieren, trägt teilweise der sehr hohe Stellenwert bunter Bilder der Popkultur ebenso wie die hohe Tendenz zur Vereinfachung und zum allzu lockeren Umgang mit historischen Forschungsergebnissen zu einem falschen Bild historischer Ereignisse und Personen bei. 

Besonders weibliche Akteurinnen werden durch die Auswahl bestimmter pop-kultureller Bildmotive gerne auf ihre Sexualität, ihre schönen Gewänder und Frisuren oder auf ihr tragisches Schicksal reduziert. So bleiben von politischen und kulturellen Handlungen starker Frauen wie der französischen Revolutionärin Manon Roland, der Kaiserin des Heiligen Römischen Reiches Marguerite von Brabant oder der russischen Zarin Katharina der Grossen oft lediglich Sex, Drama und eine grosse Portion Kitsch.

Quelle - Wikisource

 

Dennoch sind attraktive Oberflächenreize für die journalistische Geschichtsvermittlung wichtig, da sie eine emotionale, zugängliche Bildsprache schaffen, die Geschichte lebendig macht und mit bereits bekannter Ikonographie eine sofortige Verbindung mit dem Rezipienten erstellt. Das Gesicht von Cate Blanchett ist nicht nur nach modernen Standards ästhetisch, sondern verspricht etwas Vertrautes und ebendieses kann das Interesse an der «wahren Geschichte» wecken und damit einen sinnvollen Zugang zu historischem Wissen bieten.

 

Jubiläums-, Rückblicks- und Gedenktagsjournalismus - Konstruktion nationaler Identität oder Mittel zur Exklusion?

 

Eine weitere Form des Geschichtsjournalismus, die wohl jedem bekannt ist, ist der Jubiläums-, Rückblicks- und Gedenktagsjournalismus wie die unausweichlichen jährlichen Berichte zum 1. August oder die x-Jahre-Jubiläen bekannter Personen und Ereignisse wie das Lutherjahr 2017 oder das Gedenken an diverse Schlachten der Weltgeschichte. 

 

Quelle - www.luther2017.de


Obwohl dieser Modus der Vermittlung viele Menschen erreicht, ist sie zuweilen problematisch. Die Ansicht von Geschichte als eine Reihe von einzelnen Höhepunkten, heldenhafter Taten oder grosser Männer führt zu einer Vereinfachung historischer Ereignisse, welche der Komplexität der Materie keinen Gefallen tut. Zudem können daraus falsche Legitimationen reproduziert und im kollektiven Gedächtnis verfestig werden. 

Geschichte als Abbildung dynamischer Prozesse, Kontinuitäten und Überblendung synchroner-asynchroner Prozesse wird damit zu einem Insekt im Bernsteintropfen, erstarrt in der Zeit, was zu gefährlichen Deutungen führen kann (beispielsweise die Bombardierung von Dresden als Einzelereignis, losgelöst vom historischen Kontext und der Kontinuität der zeithistorischen Ereignisse). 

Auch der Versuch Identität durch die Berichterstattung zu Gedächtnistagen zu stiften, gehört eher in die Ecke der Problemerzeugung, da sie zur Konstruktion national-staatlicher, exkludierender Mythen beitragen kann. 

Andererseits jedoch kann die Berichterstattung zu Gedenktagen und Jubiläen im öffentlichen Raum auch zu einer Verlängerung des kulturellen Gedächtnisses führen und dazu beitragen historische Gegebenheiten wie etwa Friedensschlüsse, erfolgreiche Reformationen, etc. nicht ins Vergessen geraten und somit einen Beitrag zur Inklusion einer Kommunikationsgemeinschaft beitragen. Durch die Reproduktion bestimmter Gedenktage können auch soziale Diskussionen angeregt werden, welche unter Umständen dazu betragen Themen sozio-politisch zu verdringlichen. 

So wurde beispielsweise der 14. Juli 2019 in der französischen Presse dazu genutzt, um die Anliegen der sozialen Bewegung der «Gilets Jaunes» mit einem historischen Rückbezug auf die Werte der Aufklärung zu legitimieren.

 

Die Verantwortung des Geschichtsvermittlers

 

Jeder Geschichtsvermittler egal in welcher Form muss sich mithin bewusst sein, dass er durch seine Auswahl und seine Umsetzung historischer Ereignisse und Akteure einen immensen Einfluss auf Kollektiv und Individuen einer Gesellschaft hat. 

Sie/Er betreibt eine Selektion im historischen Erinnerungsraum, wählt ein bestimmtes Narrativ und setzt es mit Stilmitteln, die dem Zeitgeist unterworfen sind, um. Der Transfer von Emotionen durch Bilder und Musik hat eine unmittelbar grosse Wirkung auf den Zuschauer, die diejenigen eines Geschichtsunterrichtes bei weitem an Suggestion übertrifft. 

Durch starke Bild-, Ton- und Sprachcodes können historische Erinnerungen zugunsten der neuen Bilder überschrieben werden und so nicht nur die Deutungshoheit über historische Ereignisse im kulturellen Erinnerungsraum übernommen, sondern auch Ereignisse/Mythen im kollektiven und individuellen Gedächtnis erschaffen, verfestigt oder dekonstruieren. Durch «neue» medial konstruierte Erinnerungen können neue Strömungen und kollektive Ideen entstehen, die wiederum historische Entwicklungen beeinflussen. So wurde unser Bild eines angeblich durch und durch «weissen» Mittelalters und Frühe Neuzeit massgeblich durch historische Filme und Dokumentationen geschaffen. 
Obwohl dieses historisch falsche Bild inzwischen korrigiert wird, wurde die falsche Vermittlung für viele Zuschauer zu einer historischen Realität, was nun in zuweilen vehementer Kritik an der korrekten Darstellung von POC-Akteuren im historischen Europa als «woke» Ideologie resultiert.

Aber gerade deswegen sollte in der Geschichtsvermittlung nicht nur auf eine Deutungshoheit, sondern ebenso auf das Moralisieren mit erhobenem Zeigefinger und dem berühmten Tränen-Drüsen-Drücken weitgehend verzichtet werden, da dies wenig geeignet ist solche verinnerlichten Glaubenssätze, die während einer langen Zeitspanne mit bestimmten Bildern unterfüttert wurden, zu korrigieren. 

Stattdessen sollten neue Sichtweisen angeregt, verschiedene Zugänge/Perspektiven angeboten und dem Zuschauer Raum für eigene Gedanken gelassen werden.

 

Sollten Historiker/innen überhaupt populärwissenschaftliche Vermittlung betreiben?

 

Geschichtsvermittlung durch Dokumentationen mit filmischen Stilmitteln oder populärwissenschaftliche Print- und virtuelle Medien können also einen mindestens ambivalenten Einfluss auf die Wahrnehmung und Einordnung der Geschichte ausüben. 

 

Sollen wir als Historiker uns also auf die Publikation in wissenschaftlichen Fachmagazinen und Präsentationen an fachspezifischen Konferenzen im Kreise unserer Fachkollegen konzentrieren und uns von populärwissenschaftlichen Medien fernhalten? 
Sollten wir die Vermittlung von Geschichte den Bildungsinstitutionen überlassen? 

 

 

Keinesfalls! 

 

Wenn historische Forschung gesellschaftliche und politische Relevanz haben und nicht im sprichwörtlichen akademischen Elfenbeinturm verbleiben soll, müssen wir uns sogar zwingend mit neuen Formen und Möglich-keiten der Vermittlung auseinandersetzen. 

Die kreative Nutzung Medien aller Art wird immer ein Balanceakt zwischen Fakt und Fiktion, zwischen Unterhaltung und Wissenschaft, zwischen Kitsch und Wahrhaftigkeit bleiben, dennoch wird die historische Wissenschaft nur so einen Mehrwert für das historische Verständnis der Gesellschaft und den öffentlichen Diskurs generieren.

Über weitere Formen der Geschichtsvermittlung, nämlich durch virtuelle Plattformen wie YouTube oder TikTok sowie dem historischen Reenactement und interaktivem Theater, liest du in meinen nächsten Blog-Artikeln für die FernUni Schweiz.