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Audiovisuelle Erinnerung und wie Historiker/innen damit umgehen können

Geschrieben von Theo Mäusli | 15.07.22 14:42

 

Im letzten Blog-Artikel habe ich gezeigt, was ich als Historiker aus einem Kinofilm der fünfziger Jahre lesen kann und bin dann spezifisch auf die Radio- und Fernseharchive eingegangen, um aufzeigen zu können, was in solchen Archiven zu finden ist, und was nicht.

In diesem Artikel entdecken wir einige der weltweit grössten audiovisuellen Sammlungen und schärfen anhand der «Memory-Booms» das Bewusstsein, dass solche Quellenbestände nicht einfach so entstehen. Das ist wichtig für die Quellenkritik. Im Portal Memobase entdecken wir am Beispiel der Jugendunruhen eine fantastische Auswahl von audiovisuellen Zeugnissen der Vergangenheit.

 

Erfahre mehr über Memory-Booms, damit du audiovisuelle Quellen besser einordnen kannst

Von den späten 1970er Jahren bis zur Jahrhundertwende erfasste ein regelrechter Erinnerungsboom weite Teile der Welt - der zweite, nach dem des ausgeprägten Nationalismus um 1910, der dritte sollte mit der digitalen Vernetzung in den 2010er Jahren beginnen.

Solche Erinnerungseuphorie wurde von nationalen Bewegungen und Staaten unterstützt, aber gleichzeitig entwickelten sich auch Teilöffentlichkeiten und ein privates Gegenstück, das sich unter anderem in der Popularität der Genealogie manifestierte.

Nach den radikalen sechziger Jahren und mit den wirtschaftlich und ökologisch spürbaren Grenzen des Wachstums, den Ängsten vor einem Atomkrieg und gleichzeitig den sich aufweichenden Staatsgrenzen, suchten viele in der gemeinschaftlichen Erinnerung Identität und Vertrauen in eine gemeinsame Zukunft. Historiker/innen hingegen plädierten für eine kritische, archivbasierte Auseinandersetzung mit solchen Identitätsangeboten und nahmen die theoretische Diskussion über die gesellschaftliche Erinnerung wieder auf, die ihre Grundlagen in den zwanziger-, dreissiger Jahren des 20. Jahrhunderts in den Schriften von Maurice Halbwachs findet.

 

 

Archivist-Activist: Quellen werden nicht ohne Absicht gesammelt

 

So, I realized that actually to decide to gather information, organize information, and preserve information to disseminate it was a political act

 

Zum Erinnerungsboom gehört auch das in Teilen der Archivaren/innen aufkommende Selbstverständnis als «Archivist Activist». Dies stand in engem Zusammenhang mit den Interessen und Methoden der progressiven Geschichtsschreibung, der «Geschichte von unten», die an neuen Perspektiven und kulturellen Praktiken insbesondere diskriminierter Gruppen interessiert war.

Zu diesem Zweck wurde auf neue Quellen zugegriffen, die erst einmal gesammelt oder gar produziert werden mussten, oft mit Methoden der Oral History. Das Sammeln solcher Quellen wurde als politischer oder zumindest gesellschaftskritischer Akt verstanden, theoretisch untermauert auch durch den «Cultural Turn» mit seiner Forderung, alltagskulturelle Praktiken ernsthaft zu untersuchen.

Herkömmliche Gewissheiten und Identitäten wurden als einseitig und unvollständig entlarvt und neuen Identitäten und Gemeinschaften wurden gleichsam Verwurzelung verschafft. Dies konnte in traditionellen Archivinstitutionen geschehen, wo neue Dossiers und Abteilungen geschaffen wurden.

Es entstanden aber auch zahlreiche Archive und Dokumentationszentren, die sich gleichzeitig als Orte des kulturellen Austauschs einer Gemeinschaft und der Bekenntnisse zu alternativen Identitäten verstanden.

Dies betraf zum Beispiel die Geschichte von Arbeitenden und Gewerkschaften, Immigrantengemeinschaften, ländlichen Gemeinschaften, Frauen- und Geschlechterbewegungen, lgtb, aber auch kulturelle Ausdrucksformen wie Volksmusik, Jazz, Video und Sport.

Solche Gemeinschaftsarchive haben oft mit einer fehlenden oder unregelmässigen Finanzierung zu kämpfen und basieren in der Regel auf ehrenamtlicher Arbeit. Die Initiative geht oft von Historiker/innen aus, die sich dann aber anderen Themen zuwenden, so dass die Beständigkeit solcher Archive manchmal labil ist.

In der Schweiz wurden etliche solche Privatarchive im Archiv für Zeitgeschichte, im Sozialarchiv, im Bundesarchiv, aber auch in kantonalen und kommunalen Archiven hinterlegt, so dass ihre Kontinuität gewährleistet ist.

Die Architekturarchive der Universitäten in Zürich, Lausanne und Mendrisio sind bereits näher an den traditionellen Sammlungskategorien und Kulturkonzepten.

Im Jahr 1991 wurde das Schweizerische Literaturarchiv gegründet, um die Nachlässe von Schriftstellern zu sichern und aufzuwerten.

 

 

Wo finde ich interessante internationale Beispiele von audiovisuellen Sammlungen?

 

Natürlich entstanden im späten 19ten und frühen 20ten Jahrhundert fast gleichzeitig mit den neuen Medien auch schon erste Foto- Ton- und Filmarchive, auf deren Bestände sich die neueren Initiativen stützen konnten.

Die Sensibilisierung auf das vergängliche Kulturgut Ton fand mit dem 1960er Jahren in Kanada beginnenden World Soundscape Project ihre wissenschaftliche Grundlage. 1980 beschloss die UNESCO Empfehlungen zur Rettung von Bewegtbildern, gefolgt 1998 von einem einflussreichen Text von Ray Edmondson über die Philosophie der audiovisuellen Archivierung. Das 1992 von der UNESCO ins Leben gerufene Programm Memory of the World schloss das audiovisuelle Kulturerbe ausdrücklich mit ein.

Wie so oft gingen kulturelle Strömungen Hand in Hand mit technischen Entwicklungen. Es wurde spätestens in den 1980er Jahren offenkundig, dass immer mehr Kulturgut auf Magnetbändern gespeichert war und dass diese Trägerformate im Gegensatz zum Film und den Vinylschallplatten kein langes Leben der Video- und Toninhalte gewährleisten konnten.

Bald wurde auch klar, dass die Digitalisierung Möglichkeiten zur Langzeiterhaltung und vor allem auch zur Nutzung, ohne dass die Originale Schaden nehmen würden, bieten konnte.

Da audiovisuelle Dokumente die Kolonialzeit und die Unabhängigkeitsprozesse auf einer alltäglichen Ebene dokumentieren können, haben sich auch asiatische und afrikanische Staaten für die Bewahrung dieses kulturellen Erbes eingesetzt. Darüber hinaus wurde die Bedeutung der audiovisuellen Zeugnisse der Shoah für eine würdige Erinnerungskultur, aber auch für die Bekämpfung von Holocaust-Leugnern erkannt.

Im Jahr 2006 wurde auf Initiative der Weltorganisation der Fernseharchivare (FIAT/IFTA) schliesslich der UNESCO-Welttag des audiovisuellen Erbes ausgerufen, jeweils der 27. Oktober.

 

 

Schau dir als Beispiel das Angebot der französischen INA an

Das französische Institut National de l'Audiovisuel (INA) stand ganz vorne bei der Einrichtung nationaler audiovisueller Archive.

1974 wurde im Zuge der Aufspaltung der französischen Rundfunkanstalt in sechs neue unabhängige Organisationen auch das INA gegründet, um die audiovisuelle Innovation, Fortbildung und Archivierung auf nationaler Ebene zu fördern.

Nachdem die bisher für Druckerzeugnisse geltende gesetzliche Abgabepflicht (dépôt légal) in Frankreich auch auf audiovisuelle Veröffentlichungen ausgeweitet worden war, übernahm INA 1995 die Aufgabe, die Rundfunkproduktionen sammeln, zu bewahren und zu vermitteln.

Die bedeutende audiovisuelle Sammlung - möglicherweise die grösste der Welt - und die audiovisuelle Kompetenz sowie die Aufmerksamkeit, die INA seit seinen Anfängen der Forschung und Fortbildung widmet, haben dazu beigetragen, dass das INA bei der digitalen Revolution im Bereich der audiovisuellen Archive, die um die Jahrtausendwende einsetzte, international eine führende Rolle spielte.

Andere führende staatlich beauftragte und finanzierte Institutionen, die sich um audiovisuelles Kulturgut kümmern, sind die Niederländische BEELD EN GELUID und die entsprechende Abteilung der amerikanischen Library of Congress.

 

 

Hier findest du audiovisuelle Quellen für deine Semester- oder Bachelor-Arbeit zur Schweizer Geschichte

Entsprechend der föderalistischen Tradition verzichtete die Schweiz auf die Schaffung eines nationalen Instituts zur Erhaltung des audiovisuellen Kulturguts, sondern baute auf bestehenden Institutionen und Initiativen auf. Damit wird auch sichergestellt, dass sich die Politik nicht aktiv in die Archivierungspraxis einmischen kann.

Der Bund beteiligte sich 1987, also mit gut schweizerischer Verzögerung im Schatten des Memory-Booms, am Aufbau der heutigen Nationalponothek in Lugano. Diese gründete zusammen mit dem Bundesarchiv, der Nationalbibliothek, der Cinémathèque Suisse, dem Schweizerischen Institut zur Erhaltung der Fotographie, dem Bundesamt für Kommunikation und der SRG den Verein Memoriav, mit dem Ziel, die Erhaltung und Zugänglichmachung des audiovisuellen Kulturguts in der Schweiz zu koordinieren und zu fördern.

Die Schweiz kennt kein Dépôt légal, obwohl die systematische Abgabe von gedrucktem Material an die Nationalbibliothek weitgehend gewährleistet ist. Das Radio- und Fernsehgesetz verpflichtet die SRG seit 2016, die Sendungen systematisch zu archivieren und sie der Öffentlichkeit, der Bildung und der Forschung zugänglich zu machen - im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten.

Das Gesetz ermöglichte es dem Bund zudem, private Medien bei der Archivierung ihrer Sendungen zu unterstützen.

 

Memobase: Ein tolles Instrument und ein Muss für moderne Historiker/innen

 

Memoriav förderte im Auftrag des Bunds seit den neunziger Jahren die Digitalisierung von audiovisuellem Kulturerbe.

Immer wichtiger wird aber der Aspekt der Zugänglichmachung zu solchem Kulturgut.

 

Die Datenbank von Memoriav diente ursprünglich eher zum Nachweis der mit Hilfe von Memoriav digitalisierten Inhalte. Heute hat sich die Einsicht breit gemacht, dass Nutzer/innen nicht unbedingt wissen wollen, wer die Bestände digitalisiert hat und wo sie aufbewahrt sind.

Vielmehr wollen sie über eine Suchabfrage möglichst alle interessanten Dokumente finden und sie möglicherweise auch gerade online einsehen und anhören.

Dem ist nun die neu konzipierte Datenbank Memobase einen grossen Schritt näher gerückt. Über ein Suchfenster kann gleichzeitig nach audiovisuellen Dokumenten aus an die 100 Schweizer Institutionen gesucht werden.

 

 

 

Die Jugendbewegungen: ein Beispiel, das wir im nächsten Semester im Kurs Mediengeschichte unter die Lupe nehmen werden

Ich, gerade dem Landei entschlüpft und in Zürich an der UNI, begegnete der Jugendbewegung der frühen achtziger Jahre zwar nicht ohne Sympathie aber doch mit einer gewissen Distanz. Zu sehr lag das AYZ im Schatten der Drogenszene am Platzspitz und der Erinnerung an engstirnige, hasserfüllte und gewalttätige Terror-Fraktionen der vergangenen Jahre.

Quellenstudien anhand von Schriftgut würden kaum aus dieser Sichtweise wegführen.

In Memobase finde ich unter den Stichworten «Jugendbewegung» und «AJZ» 119 Audios oder Videos, die ich online anhören oder anschauen kann. Zudem gibt es Hinweise auf 796 andere Dokumente zu deren Konsultation ich mir allerdings Zugang zu anderen, geschützten, Datenbanken verschaffen oder gar zu einer Institution reisen müsste.

Das Suchresultat zeigt eine weite Bandbreite von Dokumenten aus dem Bundesarchiv und der Cinémathèque (in diesem Fall handelt es sich um identische Dokumente, nämlich die Filmwochenschauen), aus den SRG Archiven, dem Winterthurer Radio Stadtfilter, und dem Sozialarchiv, das wiederum eine Sammlung aus verschiedenen Beständen anbietet, von Piratradios bis zu den Aufnahmen der Vollversammlungen der Zürcher Jugendbewegung.

Das Ansehen und Anhören der Dokumente sind nicht nur interessant, oft auch vergnüglich. Den Journalisten/innen des Schweizer Fernsehens gelingt es oft kaum, ihre amüsierte Affinität zu den «Aufmüpfigen» zu verbergen, was natürlich viele auf die Palmen brachte.

Als Medienhistoriker wird mir die starke – und kreative - mediale Dimension der Jugendbewegung bewusst: die frechen, innovativen Videoproduktionen, die Piratradios, Zeitungen, Flugblätter, Sprays, Events.

Jugendbewegung wird ein Thema für unser Seminar Mediengeschichte im nächsten Herbstsemester hergeben. Dabei werden wir uns bewusst sein müssen, dass audiovisuelle Quellen zwar neue Einblicke verschaffen, dürfen aber bei ihrer Interpretation nie vergessen, dass sie selbst ein Instrument und Ausdrucksmittel der Akteure waren und nicht einfach eine andere Wahrheit wiedergeben als herkömmliche Quellen – dazu gehören nebst Amtstakten und ähnlichem auch Zeitungsartikel.

 

 

Fazit

Wir dürfen also gespannt sein auf eure Arbeiten, die dank audiovisuellen Quellen und mit einem soliden quellenkritischen Bewusstsein neue Facetten und Themen erfassen und diese auch neu erzählen.