FernUni Blog

Wie wird die Militärjustiz auf Zivilisten angewandt?

Geschrieben von Martin Bernard | 17.11.22 08:24

Wer sind die Bürgerinnen und Bürger, die vor Militärgerichte gebracht werden?? In welchen Situationen? Wie funktioniert sie? Ein Überblick

 

Die Militärjustiz, wie sie heute organisiert ist, und die Einrichtung eines Justizstabs unter der Leitung des Oberauditors (Chef der Militärjustiz) gibt es seit 1838.

Als vollwertige Institution ist sie der breiten Öffentlichkeit und den nicht in ihr tätigen Rechtsexperten/innen noch weitgehend unbekannt.

 

2‘000 Strafverfahren pro Jahr

 

Allerdings werden über 2'000 Strafverfahren jährlich von den militärischen Instanzen eingeleitet. Schweizer Bürgerinnen und Bürger können der Militärjustiz unterstellt werden, auch wenn sie nicht der Armee angehören.

 

Hier finden Sie das Video des Webinars zu diesem Thema (auf französisch)

 

 

Ein kurzer Einblick in die Geschichte der Militärjustiz

 

Das Strafrecht wurde in vielen Ländern im Laufe des 19. Jahrhunderts kodifiziert.

In der Schweiz war das Militärstrafgesetzbuch (MStG) von 1837, das 1838 in Kraft trat, die Gründungsurkunde der modernen Militärjustiz.

Das Gesetzbuch integrierte das gesamte Militärstrafrecht: Es definierte die Straftaten und die Strafen, organisierte die Militärjustiz und enthielt einige Vorschriften über den Ablauf des Verfahrens.

Das Gesetzbuch integrierte auch das gesamte Disziplinarrecht, da der Hauptzweck des Gesetzes darin bestand, die Ordnung im Kriegsgebiet aufrechtzuerhalten. Die Militärjustiz –wenn eine solche vorhanden ist – ist eine traditionelle Institution, die in vielen Ländern auch weiterhin existiert.

Sie muss jedoch im Einklang mit dem internationalen Recht stehen. Das Militärstrafsystem garantiert die Grundrechte der Personen, die vor die Militärjustiz gestellt werden.

Diese Sonderjustiz (und nicht «Ausnahme») wird vor allem aus zwei Gründen aufrechterhalten: um auf Bedürfnisse im Zusammenhang mit der militärischen Aktivität, aber auch auf die zunehmende Technisierung und Spezialisierung in verschiedenen Bereichen der Verteidigung zu reagieren.

Auch Zivilpersonen, Schweizer oder Ausländer, können diesem Verfahren unterworfen werden.

Die schweizerische Militärstrafprozessordnung (MSPO), die noch immer angewendet wird, stammt aus dem Jahr 1980.

Seitdem wurde es nicht mehr vollständig überarbeitet, da es nicht in die Arbeiten zur Vereinheitlichung der Schweizer Strafverfahren einbezogen wurde, die zum Inkrafttreten der Strafprozessordnung (StPO) am 1. Januar 2011 führten. Der Gesetzgeber ging davon aus, dass das Militärstrafverfahren nach Inkrafttreten der StPO revidiert werden würde, doch die Arbeiten wurden nie in Angriff genommen.

Aus diesem Grund gibt es in der Militärjustiz noch viele normative Lücken und Schwachstellen. Sie machen die Anwendung der Gesetze schwierig und erschweren das Verständnis der Regelungen der Militärjustiz.

Die Militärstrafbehörden greifen häufig auf Auslegung und Analogie zurück, um sicherzustellen, dass die Gesetze im Einklang mit den Gesetzen des «zivilen» Strafrechtssystems angewandt werden. Militärische Besonderheiten existieren und sind zulässig.

 

Das Modell des Untersuchungsrichters

 

Wie funktioniert das Schweizer Militärsystem konkret?

Es richtet Strafverfolgungsbehörden (Untersuchungsrichter und Auditoren) und ständige, nicht ständige Gerichte sowie Milizgerichte ein.

Diese Gerichte sind mit spezialisierten Richterinnen und Richtern besetzt, die hauptsächlich innerhalb der Armee im In- und Ausland tätig sind.

Die Strafverfolgung wird nach dem Modell des (von den Parteien und der Anklage unabhängigen) Untersuchungsrichters geregelt, das in vielen Kantonen vor dem Inkrafttreten der Schweizerischen Strafprozessordnung am 1. Januar 2011 angewandt wurde.

Vorbehaltlich dringender Massnahmen wird eine Untersuchung nur auf Antrag des zuständigen Truppenkommandanten (bei Taten, die während des Dienstes begangen wurden) oder des Oberauditors (bei Taten, die ausserhalb des Dienstes begangen wurden) eingeleitet.

Wenn dem Richter eine Untersuchungsanordnung vorgelegt wird, hat er keine andere Wahl, als ein Verfahren einzuleiten, da das Gesetz ihm nicht erlaubt, den Fall einzustellen oder eine Nichtanhandnahmeverfügung zu erlassen.

Der Untersuchungsrichter leitet alle Schritte der Untersuchung, sowohl die Be- als auch die Entlastung, ohne Einmischung der militärischen Hierarchie.

Die Unabhängigkeit des Verfahrens ist somit gewährleistet. Dies ist eine Besonderheit der Schweizer Gesetzgebung, die die Rolle der Truppenkom mandanten auf die Aufdeckung und Meldung von Missständen beschränkt[1]

[1] https://zstrr.recht.ch/fr/artikel/03rps0321abh/la-justice-militaire-suisse-de-lege-lata

 

 

Stärkung der Rechte von «zivilen» Verfahrensbeteiligten

 

In Friedenszeiten werden vor allem Angehörige der Schweizer Armee an die militärischen Instanzen verwiesen.

Zivilpersonen, die eng mit der Institution zusammenarbeiten (Angestellte, Experten usw.) oder an einem Vergehen beteiligt sind, das ein militärisches Interesse betrifft, können ebenfalls vor Militärgerichte gestellt werden.

In Kriegszeiten wird das Militärrecht auf alle Zivilisten, Kriegsgefangene, Parlamentarier, Feinde oder ausländische Soldaten ausgeweitet, die bestimmte Straftaten begangen haben, die eindeutig mit der Situation in diesen Zeiten zusammenhängen.

 

Neuerungen durch die Reorganisation der Militärjustiz

 

Die Reorganisation der Militärjustiz (2018) und die Reform des Rechts der Geschädigten (2019) haben die strukturelle Unabhängigkeit der Strafverfolgungsbehörden gesichert und die Rechte von Geschädigten und Angehörigen von Opfern im Militärprozess erheblich gestärkt.

Vor 2018 sah das Militärsystem nämlich nicht vor, dass eine Klägerpartei gebildet werden musste.

Derzeit geht es in fast 70 % der Verfahren um die Verletzung der Dienstpflicht, während 80–90 % der verfolgten Straftaten ein militärisches Interesse betreffen.

Doch die Zahl der Zivilisten, die in Militärprozessen aktiv sind (Angeklagte und Verteidiger, nun auch Nebenkläger und Rechtsbeistände), wächst.

 

In welchen Fällen können Zivilpersonen als «Kläger» auftreten?

 

Zivilisten sind hauptsächlich in folgenden Fällen involviert:

 

  • bei Verkehrsunfällen, an denen ein Armeefahrzeug beteiligt ist, das von einem Angehörigen der Streitkräfte und einer Zivilperson gelenkt wird,
  • bei körperlichen Auseinandersetzungen oder Sachbeschädigungen,
  • bei einer gerichtlichen Untersuchung eines Todesfalls oder von erheblichen Vermögensschäden.

 

Militärangehörige, die nicht «beschuldigt» werden, können auch als «Kläger» (zivil- oder strafrechtlich) auftreten, wenn sie durch die begangene Straftat geschädigt wurden. Dies ist der Fall, wenn militärische Passagiere bei einem Verkehrsunfall, an dem ein von einem Angehörigen der Streitkräfte geführtes Fahrzeug beteiligt ist, oder bei einer Übung verletzt oder getötet werden.

Das Militärgesetz schreibt vor, dass bei schwerwiegenden Ereignissen oder Schäden eine Untersuchung eingeleitet werden muss. Den Geschädigten, ob Zivilisten oder Soldaten, können daher bestimmte Rechte zugestanden werden, auch wenn keine Straftat begangen wurde. In diesem Fall ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Betroffenen die Hintergründe der Militärjustiz verstehen.

 

 

 

Fazit

 

Die Schweizer Militärjustiz ist in der Öffentlichkeit und unter Rechtsexperten wenig bekannt. Sie ist eine von der Armee unabhängige Institution.

Schweizer Bürgerinnen und Bürger können ihr unterstellt werden, auch wenn sie nicht der Armee angehören. Dies ist insbesondere bei Verkehrsunfällen der Fall, in die ein Armeefahrzeug verwickelt ist, oder bei körperlichen Auseinandersetzungen oder Sachbeschädigungen.

In jedem Jahr werden über 2'000 Strafverfahren von den militärischen Instanzen eingeleitet. Bei fast 70 % der Verfahren geht es um die Verletzung der Dienstpflicht, während 80–90 % der verfolgten Straftaten ein militärisches Interesse betreffen.