Eigentlich wollte sie schon immer Krankenschwester werden. Aber es könnte auch passieren, dass sie eines Tages Staatsanwältin wird. Auf jeden Fall ist es ihr innigster Wunsch.
Zudem ihre Motivation, warum sie an der FernUni Schweiz Recht im Fernstudium studiert.
Zwischen den ersten Sehnsüchten des kleinen Mädchens und der Frau, die sie geworden ist, hat sie eine schmerzhafte Krankheit in tiefe Zweifel gestürzt.
Sarah Loor Bravo-Hurter lässt sich aber nicht unterkriegen, sie kämpft mit aller Kraft. Weil sie weiss, dass selbst der stärkste Gegenwind sie nicht von ihren Zukunftsplänen abhalten kann.
Die Geschichte, die sie uns erzählt, ist einfach unglaublich und voller Inspiration
Manche Berufswünsche setzen sich schon in jungen Jahren im Kopf fest. Sarah jedenfalls hatte mit elf Jahren keinen Zweifel, dass sie Krankenschwester wird. Das Mädchen hatte den tiefen Wunsch, anderen Menschen zu helfen. Das war sonnenklar und daran gab es nichts zu rütteln.
Sie selbst hat keine Ahnung, warum ihr das Wohl ihrer damaligen Spielkameraden stets wichtiger war als ihr eigenes. Kein Wunder, dass man ihr den Spitznamen «Bernhardiner» gab.
So kommt es auch, dass sie damals niemandem anvertraute, dass ein Junge ihr das Znüni wegnahm und drohte, er würde sie sonst treten. «Das hat er bestimmt nur getan, weil er nichts zu essen hatte. Ich habe ihn gelassen, weniger aus Angst, sondern weil ich ihm helfen wollte», erzählt Sarah.
Ihre Stimme ist unglaublich sanft, sie scheint von innerem Frieden erfüllt zu sein. Und dann kommt doch alles anders als gedacht.
Sie ist in der Sekundarstufe. Sie ist eine fleissige Schülerin, weiss noch nicht, dass der Biologiekurs sie von ihrem ursprünglichen Berufswunsch abbringen wird.
Wir mussten an dem Tag eine Maus sezieren. Der Anblick des Blutes und der aufgeschlitzte Körper, das hat mich total schockiert. Mir war klar, dass ich keine Krankenschwester werden konnte, ich würde meine Patienten ja nicht einmal verarzten können.
Welchen Weg soll sie stattessen gehen? Die französischsprachige Schülerin lernt gerne Fremdsprachen. Sie ist sehr gut in Deutsch, Englisch und Spanisch und hat Italienisch als Wahlfach. Daher ist es nur logisch, dass sie an der Universität Genf einen Studiengang der Fakultät «Übersetzen und Dolmetschen» besucht. Dolmetscherin bei der UNO? Ihre berufliche Zukunft ist quasi bestimmt.
Von den 300 Bewerbern werden aber nur etwa dreissig zum Studium zugelassen. Sarah gehörte nicht zu den Auserwählten. Ein Rückschlag für die junge Frau, die moderne Sprachen studieren wollte, um die Kommunikation zwischen den Menschen zu erleichtern.
«Stattdessen entzifferte ich im ersten Jahr die deutsche und englische Sprache aus einem anderen Jahrhundert. Das war interessant, hatte aber kaum etwas mit dem zu tun, was ich eigentlich wollte.»
Sie versucht es mit Psychologie, aber nach anderthalb Jahren stellt sie fest, dass ihr das Studium zu theoretisch ist.
In Genf bot ein Verein wohltätige Sommercamps in Schwellenländern an. Sarah meldet sich an, für die Gruppe «gewaltfreie Kommunikation und Ökologie». Sie verliess die Schweiz und reiste nach Ecuador. Dort blieb sie zwei Monate.
Da sie Spanisch spricht, wandten sich alle an sie, wenn es um die Kommunikation mit den Einheimischen ging.
Mir ist damals so richtig bewusst geworden, dass uns der Besitz von Dingen nicht glücklicher macht. Die Leute, denen ich begegnet bin, hatten nicht viel Lebenswertes und dennoch hatten sie ein Lächeln auf den Lippen und gaben gerne von dem Wenigen ab, das sie hatten.
Die grosse Frage war, wie sie mit dem Erlebten an das anknüpfen konnte, was sie sich als Kind vorgestellt hatte, nämlich denen zu helfen, mit denen es das Leben nicht so gut meinte.
Sie schrieb sich an der Haute Ecole Sociale (HES) ein, fest entschlossen, den Rest ihres Lebens Menschen zu unterstützen, denen es schlecht geht. Sie studierte zwei Tage in der Woche und arbeitete die übrige Zeit als Erzieherin.
Zehn Jahre lang kümmerte sie sich um Kinder und junge Erwachsene mit Mehrfachbehinderungen. Eine Mammutaufgabe? Nicht für Sarah.
Ich habe nie die Behinderung gesehen, sondern die Person. Ich war beeindruckt von der Lebenskraft dieser Kinder, dieser jungen Menschen, die jeden Augenblick mit unglaublicher Intensität erleben.
Nichts machte mich glücklicher als zu sehen, wie ein an Armen und Beinen gelähmtes Kind es mit unglaublicher Anstrengung schaffte, sich ein Stückchen Schokolade abzubrechen. Sarah Loor hat ihren Platz in dieser Welt gefunden, dort, wo die Beziehungen authentisch und tief sind, wo kleine Siege gegen die Behinderung wie kostbare Perlen sind.
Ihre Rückenschmerzen häuften sich. Schmerzmittel haben nicht geholfen. Die junge Frau geht zum Arzt, der einen Bandscheibenvorfall vermutet. Nichts Ungewöhnliches in ihrem Beruf, wo Menschen und Rollstühle bewegt werden müssen.
Ich musste mich wohl damit abfinden, meinen Beruf als Erzieherin nicht mehr ausüben zu können.
Sarah wird Sozialarbeiterin. Auch eine Möglichkeit, sich um andere zu kümmern.
Aber ihre Erkältungsbeschwerden und ein hartnäckiger Husten vergehen nicht. Die mehrwöchige Behandlung bringt keinen Erfolg. Sie hat multiple Schmerzen. Ihr Zustand ist den Ärzten unerklärlich. Sie haben sie an einen Psychiater verwiesen, weil sie eine psychosomatische Erkrankung vermuteten.
Aber sie hat stark abgenommen und eine Hand wurde taub. Sie hatte das Gefühl, dass ihr Körper Tag für Tag verfällt. Aufgrund der Symptome musste sie für einen Monat ins Spital.
Die Ärzte wollten herausfinden, woher diese plötzliche Abfolge von Beschwerden kommt. Es vergingen Tage, dann stand die Diagnose fest. «Es war an einem Freitagabend, ich erinnere mich noch sehr genau daran. Sieben Ärzte kamen an mein Krankenbett. Sie hatten die Ursache gefunden. Ich hatte eine Autoimmunkrankheit. Eine seltene Krankheit.
Ich fühlte mich plötzlich erleichtert, weil das, was ich hatte, auf einmal einen Namen trug, es war real. Gleichzeitig wusste ich nicht, was mich erwartete. Bis ich den Namen meiner Krankheit auf dem Fernsehbildschirm sah. An dem Abend wurde der Telethon übertragen. Ich verfolgte die Sendung mit grossem Interesse, weil ich Fan von ihr war und einige der Erkrankten kannte.
Und plötzlich stand auch ich auf der anderen Seite. Ich war nicht mehr die, die sich für andere einsetzte, sondern die, die krank war.»
Sarah war überglücklich, aus dem Spital entlassen zu werden, und verfiel deshalb nicht in Panik. Aber die Therapie, die ihr bevorstand, war anstrengend und nicht ganz ohne. Sechs Monate lang gingen ihr immer wieder dieselben Fragen durch den Kopf: «Warum diese seltene Krankheit? Warum ich?»
Nach und nach legte sich ihre innere Unruhe. Ihre Familie und Freunde waren für sie da, hörten ihr zu, unterstützten sie. Natürlich wird sich ihr ganzes Leben auf den Kopf stellen. Durch die Krankheit kann sie ihre Hände nur noch teilweise bewegen. Zudem hat sie eine Fibromyalgie (chronische Schmerzen und Müdigkeit). Sie macht weitere Therapien.
Sie leidet so sehr, dass sie sich einen Neurostimulator in die Wirbelsäule einsetzen lässt. Das Gerät hat einen Akku, der über eine Steckdose aufgeladen wird. «Am Anfang fand ich es seltsam, wie ein Haushaltsgerät an einer Steckdose angeschlossen zu sein.» Mit diesem Gerät aber verschwinden ihre Nervenschmerzen.
Zu allem Überfluss wurde ihr Arbeitsvertrag als Sozialarbeiterin gekündigt. Sie erhielt eine Invalidenrente von 50 %. Sie arbeitete als Nachhilfelehrerin, half bei der Integration und unterstützte Personen, die ihren Alltag nicht selbst meistern konnten. Das alles machte ihr viel Spass, aber mit 37 Jahren möchte sie noch mehr erreichen. Sarah ist nie von ihrem Kurs abgekommen.
Sie will noch immer anderen helfen. Das Rechtswesen interessiert sie.
Recht an der Universität Lausanne studieren? Das liess ihr Gesundheitszustand nicht zu. Vielleicht gibt es aber einen anderen Weg? In einem Suchportal stösst sie auf die FernUni Schweiz, die ein Fernstudium anbietet. Was für ein Glück.
Sie schrieb sich ein. Sie wollte schauen, ob das funktioniert. Und ob es funktioniert – es ist für sie eine echte Offenbarung. «Die Professoren/innen sind engagiert, verständnisvoll und immer für mich da. Sie wissen, dass für mich vieles kompliziert ist, dass ich nicht lange schreiben kann, ohne wahnsinnige Schmerzen zu bekommen.»
Die Dozierenden an der FernUni Schweiz lassen sich immer etwas einfallen.
Ich durfte meine ersten Prüfungen mit Spracherkennung machen. Und ich darf schriftliche Prüfungen mündlich absolvieren.
Die Studierendenbetreuung ist unglaublich bemüht. Schon vor COVID-19 hat sich die junge Frau gut mit ihren Kommilitonen/innen bei ihren monatlichen Treffen vernetzt.
Einige sind echte Freunde geworden und wir helfen uns gegenseitig. Wenn ich an einem Kurs mal nicht teilnehmen kann, weil ich Therapie habe, schickt mir jemand die Mitschrift und umgekehrt.
Sarah lernt frühmorgens. Sie steht gegen 4 Uhr auf. Eine Gewohnheit aus ihrer Zeit im Spital. Dort geht der Betrieb in aller Früh los.
«Ich habe dann die meiste Energie. Ich fühle mich wohl in meiner kleinen Blase.»
Für die junge Frau bedeutet Lernen zu leben, jemand anderes zu sein als eine Kranke. Zwischen den anderen Studierenden der FernUni Schweiz hat sie ihren Platz gefunden und fühlt sich wohl.
Wir sind mehr oder weniger im gleichen Alter. Die meisten haben erst einmal in ihrem Beruf gearbeitet und dann ein Fernstudium begonnen. Oder sie arbeiten und studieren parallel, um sich beruflich neu zu orientieren.
Ihr gefällt es, dass so viele verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Geschichten aufeinandertreffen.
Sie ist gerne Teil dieser grossen Gemeinschaft von Studierenden, die ihr eine eigene Identität gibt. Als sie sich für den Bachelor-Studiengang in Recht einschrieb, hätte sie nie gedacht, dass sie eines Tages ihr Diplom in den Händen halten würde.
Und jetzt hat sie schon drei Viertel des Weges erfolgreich hinter sich. Und danach? Anwältin werden? «Ich möchte niemanden verteidigen, der ein schweres Verbrechen begangen hat, für das ich ihn nicht bestrafen kann.»
Sie träumt davon Staatsanwältin zu werden. Sozusagen als Fürsprecher der Gesellschaft, wie sie selbst sagt.
Sarah weiss nicht warum sie immer wieder auf die Füsse gefallen ist. Vielleicht hat sie dieses besondere
Etwas, das nicht greifbar ist, man aber in ihrer Stimme hören kann.